Wir haben Alexander Neupert-Doppler zum Thema Staatsfetischismus, Utopie und Kairós – der Gelegenheit zur politischen Veränderung – interviewt.
Dr. Alexander Neupert-Doppler ist wissenschaftlicher Mitarbeiter für Politische Theorie am Institut für transformative Nachhaltigkeitsforschung in Potsdam (IASS). Nach Büchern zu Staatsfetischismus (2013) und Utopie (2015) schließt der Kairós (2019) diese Trilogie ab.
LIKOS: Viele rufen nun nach dem starken Staat, manche können gar nicht genug Polizei auf der Straße sehen, aber auch Linke und radikale Linke stellen nun Forderungen wie beispielsweise nach dem „Corona-Grundeinkommen“. Wie würdest Du diese Entwicklung erstmal allgemein bewerten?
Alexander Neupert-Doppler: Ganz allgemein oder auch um beim genannten Beispiel zu bleiben: Ich find’s nicht falsch, vom Staat Geld zu nehmen, der nimmt das von uns ja auch – irgendwo muss er es ja herhaben. Die Frage ist, wann kippt das in Richtung Staatsfetischismus? Dazu habe ich etwas Schönes gefunden – ganz auf Zitate kann ich dann doch nicht verzichten. Das Zitat ist aus einem Text von Georg Lukács aus 1920 – also hundert Jahre alt – und doch erschreckend aktuell: „Noch inmitten der tödlichen Krise des Kapitalismus erleben breite Massen des Proletariats Staat, Recht und Wirtschaft der Bourgeoisie als einzige mögliche Umwelt ihres Daseins, […]. Dies ist die Weltanschauungsgrundlage der Legalität. […] Sie ist die natürliche und instinktive Orientierung nach dem Staate, dem Gebilde, das dem Handelnden als der einzig fixe Punkt im Chaos der Erscheinungen vorkommt.“
Ich denke, das ist das, was wir auch in der Corona-Krise wieder beobachten: Dass nämlich der Staat, weil er eine Form der kapitalistischen Gesellschaft ist und die einzige, die so etwas wie eine Ordnung aufrechterhalten kann, dann eben auch zum Adressat von Forderungen wird. Der eigentliche Fehler – wenn man beim Staatsfetischismus von so etwas sprechen will – wäre dann, diese Funktion des Staates als Ordnungsmacht des Kapitals damit zu verwechseln, dass der Staat eine neutrale Kraft wäre, die für alle Forderungen gleichermaßen ansprechbar ist. Ich glaube, das ist eine wichtige Unterscheidung. Es gibt sicherlich Spielraum innerhalb von Staaten – klar, die müssen alle Steuern einnehmen, um sich zu finanzieren, aber ob es dann eine Vermögenssteuer gibt oder nicht ist eine Frage von Kräfteverhältnissen. Bei kritischer Betrachtung sollte genau das den Leuten klar sein, wenn sie Forderungen stellen: dass die Erfüllung der Forderungen nicht großzügig von Vater Staat gewährt wird, sondern dass das eine Frage von politischen Auseinandersetzungen ist.
LIKOS: Daran, dass der Staat die einzige Instanz ist, die eine Ordnung garantieren kann, ist ja aktuell auch etwas dran. Daher wäre es eigentlich nötig, das Formulieren von Staatskritik auch durch Vorstellungen zu einer Art Gegenordnung zu ergänzen. Vielleicht muss man es nicht Ordnung nennen, das geht vielleicht schon zu sehr in den Bereich der Utopie. Aber eben diesen Balanceakt zwischen Selbstorganisierung und dem Stellen von Forderungen an den Staat zu schaffen, ohne dass man in Staatsfetischismus verfällt, stellen wir uns doch ziemlich kompliziert vor. Fällt dir eine Strategie oder ein historisches Beispiel ein, wo man das halbwegs erfolgreich gemacht hat?
AND.: Ich würde da unterscheiden zwischen Strategie und Taktik. Eine Strategie wäre etwas Langfristigeres, Taktik wäre für tagesaktuelle Fragen. Und gerade beim tagesaktuellen Geschehen ist diese Unterscheidung wichtig, wenn ich zum Beispiel das konkrete Problem habe, dass ich meine Miete nicht zahlen kann. Ich habe das mal nachgeschlagen, zurzeit zahlen 5% der Haushalte in der BRD keine Miete, weil sie es schlicht nicht mehr können. Die Frage ist, welche Optionen haben diese Leute?
Da kann man einerseits sagen: Weil der Staat – im Kapitalismus, das muss man immer dazu sagen – die Ordnungsmacht ist, kann er eben solche Regelungen erlassen wie die zur Mietstundung, die bis September gilt. Dieser Regelung zufolge müssen die Mieten erst mal nicht gezahlt werden, sondern werden zu später abzuzahlenden Schulden. Später wäre also noch zu fordern, diese Mietschulden auch zu erlassen.
Um solche Forderungen durchzusetzen, braucht man natürlich Selbstorganisierung, die nicht in den staatlichen Institutionen aufgeht. Also wäre zur Unterstützung von so einer Forderung ein tatsächlich schlagkräftiger Mietstreik notwendig, der in einigen europäischen Ländern auch geplant und organisiert wird. Dafür braucht es dann auch Plattformen. Insofern halte ich es weniger für eine Frage des Wollens, was Leute machen. Vielmehr geht es darum, welche Optionen sie haben: Wo müssen sie Spielräume staatlicher Politik nutzen und wo haben sie bestimmte Formen der Selbstorganisierung?
Und auch diese Formen der Selbstorganisierung basieren immer auf Zugeständnissen von Staaten. Dass es Gewerkschaften geben kann, liegt daran, dass es ein Recht auf Koalitionsfreiheit gibt. Dass wir über Selbstorganisierung reden können, liegt daran, dass es normalerweise ein Recht auf Versammlungsfreiheit gibt.
Auch da entsteht natürlich eine Wechselwirkung, welche Spielräume für Selbstorganisierung innerhalb eines Staates existieren? Und wo kann man dann auch vielleicht prozesshaft den strategischen Aspekt, mehr und mehr auf Selbstorganisierung zurückzugreifen, erweitern und ist weniger darauf angewiesen, sich auf das problematische Feld der Auseinandersetzung mit dem Staat zu begeben. Das hat dann vielleicht auch mit Autonomie im Sinne von unabhängiger werden zu tun.
LIKOS: Im Endeffekt würdest du also schon sagen, es ist ein falsches Entweder-Oder in dem Sinne, dass man nicht sagen kann: Entweder werden Forderungen an den Staat gestellt oder es wird durch Selbstorganisierung erreicht? Sondern wenn Formen der Selbstorganisierung vorhanden sind, kann man auch erfolgreich Forderungen an den Staat stellen?
AND.: Zum gegenwärtigen Zeitpunkt – ja. Dazu würde ich ein weiteres Beispiel anführen. Wenn jetzt die rumänischen Spargelstecher*innen in ihrem Streik auch bürgerliche Gerichte anrufen, um bestimmte Rechte als Arbeiter*innen einzufordern, dann wäre ich der Letzte, der denen Staatsfetischismus vorwirft. Da ist es eher ein gutes Zeichen, dass denen klar ist, dass sie sich selbst organisieren müssen, um überhaupt was durchzusetzen und der Staat nicht von sich aus eine irgendwie wohlmeinende Instanz wäre. Denen ist sehr klar, was sie dort tun können in ihrer Praxis zum gegenwärtigen Zeitpunkt.
Um noch einmal auf die gegenwärtigen Theorien zurückzugreifen, und da kann ich wieder an Georg Lukacs erinnern: Wenn ich mich auf den Staat beziehe, gestehe ich quasi in meiner Praxis ein, dass ich über keine alternativen Institutionen verfüge. Wenn es Räte, Stadtteilversammlungen, Basisorganisationen gibt, die Konflikte auch anders lösen können, dann beweist wiederum die Praxis, dass ich Alternativen habe und diese Alternativen muss man entwickeln, ausprobieren und ehrlich mit sich sein, wie weit die grade reichen. Insofern ist es tatsächlich ein sehr spannendes Verhältnis, wie man sich im Staat, gegen den Staat und perspektivisch über den Staat hinaus organisieren kann.
LIKOS: Aktuell und auch perspektivisch werden die Corona-Krise und die Wirtschaftskrise für viele Menschen schwerwiegende Veränderungen verursachen. Dabei kommt es zwar auf den Widerstand der Menschen an, aber erstmal zum Schlechteren. Utopien und die Verbreitung einer Utopie können dabei bei manchen gegebenenfalls als Träumerei abgetan werden oder im schlimmsten Fall zynisch wirken. Andererseits gibt es grade viele Probleme, die zum utopischen Denken anregen. Ist gerade Zeit für Utopie oder sollten wir uns auf die Politisierung konkreter Probleme konzentrieren?
AND.: Ich glaube, es gibt gar keine Politisierung konkreter Probleme ohne utopischen Überschuss, weil genau da, speziell in Krisenzeiten, Utopien ja auch zünden.
Immer ein gutes Beispiel liefert der Gesundheitssektor. Jetzt festzustellen und als Kritik auszuformulieren, dass die Privatisierung vom Gesundheitssektor ein Fehler war und dass das eine kapitalistische Verwertungslogik innehat, liegt auf der Hand. Sobald ich diese Kritik aber formuliere, stehe ich ja auch vor der Frage, wie dann ansonsten z.B. Krankenhäuser verwaltet werden könnten, wenn nicht über gewinnorientierte Konzerne. Da gibt es verschiedene Möglichkeiten. Man könnte die Verstaatlichung vom Gesundheitssektor fordern oder sich eine Kommunalisierung wünschen, weil man vielleicht davon ausgeht, dass Städte dann doch noch mehr auf andere Interessen achten als Staaten das können. Man kann nachdenken über Modelle von Selbstverwaltung im Gesundheitssektor. Damit ist man von vornherein im Grunde schon in diesem Bereich des Utopischen, allerdings mit einer unterschiedlichen Reichweite. Die Kommunalisierung des Krankenhauses wäre sicherlich die kleinere Utopie als die Umgestaltung vom Gesundheitssektor im Ganzen, wo natürlich immer auch drinsteckt, dass das nur geht, wenn überhaupt in einer Bewegung eine Transformation aus kapitalistischen Verhältnissen herauskommen würde. Insofern glaube ich auch, es bringt nichts, sich Utopie immer vorzustellen als etwas, das zeitlich besonders weit weg ist, sowas lässt sich in einer Gegenwart ohnehin kaum bestimmen.
Ich würde – passend zum Thema – zurückgreifen auf eine Definition von Gabriele Winkler vom feministischen Netzwerk Care Revolution. Sie hat auf die Frage, was konkrete Utopie ist, mal gesagt: „Konkrete Utopie ist eine, die sich auch auf jetzt schon vorhandene Möglichkeiten und reale Akteure bezieht.“ Das heißt, wenn es zum Beispiel im Gesundheitssektor Proteste und Bewegungen gibt, kann man da auch erstmal gucken, was die Forderungen sind und das utopische Moment wäre dann, diese Forderungen zuzuspitzen.
Ich glaube, dass das auch häufig einen sehr realpolitischen Effekt haben kann. Historisch zeigt sich das am Beispiel des Sozialstaats im 19. Jahrhundert. Den hat die Arbeiter*innenbewegung ja nicht geschenkt bekommen, sondern weil sie Sozialismus gefordert haben, haben sie den Sozialstaat bekommen.
Mit Utopien ist man natürlich immer einen Schritt weiter als das, was gerade durchsetzbar ist, aber eben darum haben Utopien häufig so eine motivierende Funktion und sind daher auch nicht zu trennen von konkretem Widerstand oder konkreten Kämpfen.
LIKOS: Das überzeugt schon, aber wenn man sich vorstellt, vor einem Altenheim für die Selbstorganisierung des Altenheims zu werben, kann das einerseits bei manchen Leuten durchaus auf Zustimmung stoßen, andererseits werden auch Leute – und das gar nicht unberechtigterweise – diesen Gedanken ablehnen aus Sorge vor einem erhöhten Arbeitsaufwand bei Selbstorganisierung für das gleiche Gehalt.
Es gibt also verständlicherweise Angst vor Selbstorganisierung, weil die Selbstorganisierung ja auch tatsächlich nach hinten losgehen kann, und zwar insofern, als dass man dann nämlich zusätzliche Aufgaben übernimmt, sozusagen ehrenamtlich. Irgendwann kann es passieren, dass man sich in der Zwickmühle findet, in der die Leute im Care-Sektor ohnehin schon stecken, dass sie es nicht einfach sein lassen können zu arbeiten, weil Menschen direkt von ihnen abhängig sind. Das kann bei einigen Leuten also zynisch oder träumerisch rüberkommen.
AND.: Es gibt ein Moment, auch gerade in der Idee der Selbstverwaltung, das sehr anschlussfähig ist an die liberale Selbstverantwortung: wenn die Leute unzufrieden sind, sollen sie es halt selber machen. Da fand ich einen Gedanken, mit dem das Netzwerk Care Revolution arbeitet und den das Netzwerk in Diskussionen mit Leuten aus dem Gesundheitssektor entwickelt hat, sehr interessant. Man könnte diesen Gedanken als erweiterte Form von Selbstverwaltung bezeichnen. Es wurde ein Modell von Gesundheitsräten entwickelt, bei denen beispielsweise neben dem Krankenhauspersonal PatientInnen, Angehörige und Leute aus dem Stadtteil mit eingebunden werden würden, um eine Demokratisierung im Gesundheitssektor in die Praxis umzusetzen.
Dass das enorm anstrengend ist und Leute sich dafür eher schwer begeistern lassen, ist klar. Das hätte dann wiederum, glaube ich, viel mit der Einsicht zu tun, dass es, so wie es läuft, nicht weitergehen kann und dass es daher notwendig ist, bestimmte Schranken im Denken zu überschreiten. Das wäre quasi die Aufgabe von utopischem Denken, wenn man darunter etwas anderes versteht, als sich am Schreibtisch ein Modell auszudenken.
Das ist auch ein Stück weit eine Antwort auf das in der Interviewfrage gezeichnete Bild vom Flugblatt mit Utopievorschlag, das vorm Krankenhaus verteilt wird. Da stellt sich eher die Frage, wie man gemeinsam mit den Leuten anfängt, sich zu wehren – was ja auch häufig mit Unterbrechungen von Routinen zu tun hat –, wie man in die Diskussion kommt über Forderungen, wie man den Leuten die Angst nehmen kann, Forderungen zu stellen, die unmittelbar erstmal unerfüllbar scheinen, aber trotzdem neue Perspektiven aufmachen. Ich glaub, das ist eher zu denken als gemeinsamer Prozess als das Winken mit fertigen Rezepten.
LIKOS: Den Versuch, Agitation zu betreiben ohne Leute im Boot zu haben, die selber in dem Bereich arbeiten, können wir meistens schon an den Nagel hängen. Eine Genossin, die in der Pflege arbeitet, war bei ein paar Aktionen dabei und das hat enorm geholfen – allein wenn die Leute merken, da ist eine dabei, die beherrscht das Fachvokabular und kann unsere Situation nachvollziehen, weil sie selbst in dieser Situation drinsteckt.
Das ist auch nicht ganz unwichtig, um Utopie zu vermitteln. Erwähnte Genossin und jemand anderes könnten das Gleiche sagen vom utopischen Inhalt her, aber als Person ohne das Fachwissen könnte man das nicht so gut vermitteln wie sie das kann.
AND.: Die Leute vom jeweiligen Fach wissen auch viel mehr dazu. Ich habe letztens in der Kneipe mit einem Logistiker gesprochen. Der hat sich beschwert, wie sinnlos die Organisationsweise bestimmter Verschiebungen von Waren ist. Als ich ihn gefragt habe, wie er es gerne machen würde, kam er auf andere Kriterien, wie man so etwas beispielsweise umweltfreundlicher und mit weniger Aufwand gestalten kann. Das Wissen hat er einfach, weil er in der Logistik arbeitet.
Die Tradition, Leuten auch mal Fragen zu stellen, statt Parolen auf Bettlaken an ihnen vorbeizutragen, ist auch innerhalb der Linken ein bisschen verloren gegangen. Im italienischen Operaismus wurden Leute über ihre Lebenssituation befragt. Wir können auch noch weiter zurückgehen, es gibt von Marx schon Entwürfe für Fragebögen für ArbeiterInnen, um sich überhaupt auch mal jenseits der Bücher zu informieren, was da los ist in der Welt. Ich halte es für sinnvoll, so eine Befragung um ein utopisches Moment zu erweitern und zu erheben, was die Leute in ihren Arbeitsfeldern anders machen würden und wie. Das wäre was, was eher zu sammeln wäre. Deshalb bin ich der Meinung, dass wird nicht mehr in der Lage von wie vor 500 Jahren sind, wo sich eine einzelne Person hinsetzt und sich Utopia ausdenkt, sondern das wäre ein viel pluralistischerer Begriff von Utopie, der an der Zeit wäre, was vor allem auch mit dem Sammeln von Ideen zu tun hat.
LIKOS: Fragebögen ausfüllen zu lassen und auszuwerten ist ein interessanter Ansatz, da ist was dran.
AND.: Es wäre auch verkehrt, so zu tun, als ob wir uns unser Mandat einfach so von den Leuten abholen und politische Aktivist*innen keine andere Rolle mehr spielen als Briefträger, das ist natürlich Unfug, vor allem in der aktuellen Situation. Ich glaube schon, dass man auch mit so einem Begriff wie Kommunismus, wenn man den konkret füllt, was bewegen kann. Bei solchen großen Wörtern wäre es erstmal hilfreich, die in Tu-Wörter zu übersetzen. Wenn man über Kommunisierung redet, bspw. von Gesundheitssektor, oder wenn die Leute Probleme haben, ihre Miete zu zahlen, finde ich auch Bewegungen spannend, die über Enteignung oder besser gesagt Aneignung von Wohnraum nachdenken. Es ist ja auch so, dass sowas in der Corona-Krise gelegentlich mal passiert. Das wäre etwas, wo man über Zwischenschritte nachdenken kann.
England hat jetzt seine Eisenbahn wieder verstaatlicht. Verstaatlichung wäre nicht meine Utopie, aber es schafft schon mal eine andere Grundlage, um über öffentlichen Nahverkehr als gemeinsames kommunistisches Gut nachzudenken. Und dann wäre man wieder bei der Frage, wie man das eigentlich verwalten kann und wie eine Kontrolle davon aussieht, die nicht über den Staat vermittelt sein muss. Aber genau das ist der Punkt, an dem es dann wieder ums Konstruktive geht. Wenn ich also die Idee habe, dass solche Sachen kommunisiert werden könnten, bin ich zumindest schon bei einer anderen Fragestellung und ich glaube, das ist das Wichtige. Kommunismus als Antwort ist etwas, womit Leute in öffentlichen Diskussionen häufig abprallen, weil den meisten die Frage fehlt. Marc Fisher hat das kapitalistischen Realismus genannt, wenn die Leute ohnehin wissen, dass nur Kapitalismus realistisch ist, dann fehlt bei denen bereits die Frage nach dem Anderen und deshalb glaube ich, kann man Utopien als Antworten nicht geben ohne mitzubedenken, dass man sich erstmal die Fragen dazu erarbeiten muss.
LIKOS: Diese Frage wird ja durch die Corona-Krise tatsächlich ein Stück weit erarbeitet, vielleicht auch als Negativ-Beispiel. Das könnte man utopisch wenden – nämlich dass ganz vieles von dem, was hier die letzten 10, 20 Jahre für unveränderbar verkauft wurde, auf einmal doch diskutierbar und veränderbar ist und dass der Staat jetzt in gewisse Dinge eingreift. Letzteres muss man jetzt als Linke/r nicht unbedingt gut finden, war aber bislang tabu. Dann kommt Corona und auf einmal ist das alles möglich.
Die Frage ist nun, ob man diesen Bogen über den Staat hinaus weiter spannen kann oder ob es dann doch darin endet, dass jetzt der Neoliberalismus vorbei ist und an dessen Stelle wieder ein starker Staat steht. Da stünde man ja als Linke/r auch blöd da, wenn man die Situation nicht genutzt hat, um Gegenentwürfe zu erarbeiten. Also das Beispiel mit den Eisenbahnen in Großbritannien wäre noch bis vor drei Monaten nicht diskutabel gewesen.
AND.: Es hätte ja auch für die Regierung keinen Grund gegeben, wenn dieses Privatunternehmen nicht gedroht hätte, pleite zu gehen. Dann hätte es keine Eisenbahn mehr gegeben, also musste die quasi verstaatlicht werden. Außerdem ist die Corona-Krise auch zusammenzudenken mit einer länger andauernden Klima-Krise. Denn wenn vorher die Klimabewegung gefordert hat, dass öffentlicher Nahverkehr eigentlich bestenfalls kostenlos sein müsste, um überhaupt eine Alternative zum Auto darzustellen, wurde von der Politik gekontert, dies sei leider in einer Marktwirtschaft nicht möglich, die Dinge kosten schließlich so viel, wie Angebot und Nachfrage das diktieren. Und plötzlich wird ein Bereich aus der Marktwirtschaft herausgenommen. Das ist damit keine kapitalismusfreie Zone – eine Eisenbahnfahrt ist in England immer noch eine Ware – aber es lässt zumindest einen Funken davon aufscheinen, dass Sachen eben doch veränderbar sein könnten. Und dann kommt es darauf an, wie so etwas genutzt werden kann.
LIKOS: Womit wir auch bei der nächsten Frage angekommen sind. Inwieweit stellt die aktuelle Corona-Krise oder auch die sich andeutende Wirtschaftskrise eine Gelegenheit für uns als Linke dar?
AND.: Ich nutze da gerne das Denkbild mit den griechischen Göttern – dazu passt ein Zitat von Michael Brie von der Rosa-Luxemburg-Stiftung, der 2017 geschrieben hat: „Zum einen gibt es Epochen der Evolution, in denen die Akteure, ihre Kräfteverhältnisse, die Produktions- und Lebensweisen sowie die Naturverhältnisse relativ stabil sind. Soziale und politische Kämpfe verschieben innerhalb dieses Rahmens das Gewicht einzelner Tendenzen, den Einfluss bestimmter Kräfte. Chronos mit dem Stundenglas ist der Gott dieser Epoche.“ [Also Zeiten in denen das Zeitgefühl der Menschen chronologisch geordnet ist und der eine Tag dem anderen ähnelt.]
In Epochen des Umbruchs können Weichen gestellt werden. Dies ist der Augenblick des Gottes Kairos. Es ist ein Augenblick, der genutzt werden kann oder dessen Möglichkeitsfenster sich auch wieder schließt. […] Manchmal ist historische Zeit für die Lebenden eher der gemächliche Fluss des Chronos. Aber dann verwandelt sich dieser Fluss plötzlich in reißende Stromschnellen, bei denen nur der besteht, der den Augenblick nutzt und Kairos beim Schopfe packt“.
Das wäre dann auch genau der Punkt, an dem sich theoretisch Krise, Kairos und Gelegenheit verknüpfen lassen. Denn was Krisen mit sich bringen ist genau dieser Prozess, dass die alltägliche Routine unterbrochen wird und sich dort auch ein Handlungsraum öffnet. Wenn die Frage nun war, wie man aus einer solchen Krise eine Gelegenheit für sich macht, ist immer zu bedenken, dass wir nicht die einzigen sind, die das vorhaben. Der sogenannte Sommer der Migration 2015 beispielsweise war sowohl die Gelegenheit für eine breitere Refugees-welcome-Bewegung, die sich leider unzureichend politisiert hat, es war aber auch die Gelegenheit für die AfD, ein Thema zu finden, mit dem sie dann ins Parlament gekommen ist. Also im Grunde dieselbe Situation, in der von mehreren Seiten versucht wurde, aus dieser Situation eine Gelegenheit zu machen.
LIKOS: Das hieße dann, primär ist erstmal die Unterbrechung des Alltags wichtig?
AND.: Das ist der erste Aspekt. Dazu kommen noch zwei weitere. Es braucht eine Krise, in der Krise kommen Fragen auf. Es kommt dabei darauf an, wer diese Fragen formuliert und wie. Für die jetzige Regierung ist das eine gouvermentale Frage, die einfach lautet: wie lässt sich eine solche Pandemie eigentlich regieren? Darauf ist die Antwort einerseits dieser nationale Mythos „Wir sitzen alle in einem Boot“, andererseits braucht es Gesetze und Geld. Damit wäre die Frage für die Regierung beantwortet.
Wenn man die Frage anders stellen will, ist das eine Kraftprobe. Deshalb sind diese Krisen auch Zeiten, in denen es sich lohnt, eine Konzentration anderer Kräfte zu bemühen. Das machen verschiedene politische Kräfte. Es gibt von der rechten Opposition den Versuch, daraus eine liberale Frage zu machen. „Die Menschen sollen wieder frei sein“, was im Kapitalismus in erster Linie Konsumieren bedeutet. Ich denke, in den Bereich fällt auch ein Teil der verständlicheren Wünsche, bestimmte Beschränkungen wieder aufzuheben bis hin zu den absurdesten Verschwörungsideologien. Die Verschwörungsideolog*innen versuchen ja auch, sich zu konzentrieren, was gerade Thema ist und das für sich zu nutzen.
Was mir ein wenig fehlt, ist diese Krise und auch die kommende Wirtschaftskrise als soziale Frage zu betrachten, was Aufgabe einer Linken wäre. Das passiert zu wenig, wir waren allerdings als Linke auch gegebenenfalls zu wenig vorbereitet. Von der Parteilinken kommt zwar eine Forderung nach Vermögensabgaben, um die Folgekosten der Krise aufzufangen, aber eher bescheiden, von den DGB-Gewerkschaften kam fast gar nichts. Da wurde widerstandslos hingenommen, dass Arbeitsschutzgesetze ausgesetzt wurden und dass die Produktion weiterlaufen soll, auch wenn ArbeiterInnen dadurch ihre Gesundheit gefährden. Das sah in anderen Ländern Europas teilweise anders aus, wo es auch wilde Streiks gab und die Leute gesagt haben, „Wir sind doch nicht verrückt, wenn wir in der Freizeit zuhause bleiben, dann stellen wir uns nicht mit vielen anderen in die Fabrik.“ Die Bewegungslinke wiederum macht zwar gerade Online-Veranstaltungen und versucht sich an Corona-sicheren Demonstrationen, aber ich finde es eher schleppend. Es ist natürlich auch gerade schwer zu machen und es vor allem offen zu gestalten.
In einem Punkt bin ich mir besonders unsicher: Anfangs dachte ich, dass diese Nachbarschaftshilfen einen Moment haben, dass dort eine Konstitution neuer Beziehungen stattfindet und sei es nur, dass Nachbar_innen füreinander einkaufen, näher zusammenrücken und solidarische Beziehungen entstehen. Ich bin allerdings etwas ratlos, ob es geklappt hat, das entsprechend zu politisieren, selbst da wo es Linke angestoßen haben. In Hannover zum Beispiel wurde allen, die sich dort engagieren wollten gesagt, „Ihr könnt hier mitmachen, aber ihr müsst akzeptieren, dass wir auch Obdachlosen und Migrant_innen helfen“, das war praktisch eine Art Eintrittsbedingung, damit einverstanden zu sein. Ich bin mir nicht sicher, wie viele Menschen das politisiert hat oder ob es am Ende „nur“ Nachbarschaftshilfe in der Not war, woraus keine neuen Kräfte erwachsen. Insofern wäre ich auch sehr vorsichtig, von einer Gelegenheit für einen tatsächlichen Bruch mit dem Bestehenden auszugehen, weil ich dafür nicht die Kräfte sehe. Es gelingt ein wenig, sich auf das Thema zu konzentrieren, aber eine wirkliche Ausweitung oder Neugründung von Organisierungsansätzen vermisse ich da tatsächlich. Vielleicht verschiebt sich das aber auch ein bisschen auf einen späteren Zeitraum. Es kann sein, dass das eine Neuauflage der „Wir zahlen nicht für eure Krise“-Kampagne 2008/2009 wird oder dass der Mietstreik doch nochmal in Gang kommt. Der hätte vielleicht jetzt tatsächlich auch eine bessere Basis, da sich Hausgemeinschaften besser kennengelernt haben. Wie ist da eure Erfahrung?
LIKOS: Wir haben uns hier auch in dem Solidaritätsnetzwerk eingebracht. Anfangs gab es relativ viele Diskussionen und etwa alle anderthalb Wochen Telefonkonferenzen, aber das ist aktuell ziemlich eingeschlafen. Zum einen hat sich die Freiwilligenagentur der Stadt das recht schnell unter den Nagel gerissen und wollte alle Freiwilligen in ihre Kartei aufnehmen, um die dann zu vermitteln. Wir haben versucht, das innerhalb des Netzwerks kritisch einzuordnen und klarzumachen, dass die Stadt keine neutrale Institution ist und wir uns nicht zu sehr von denen abhängig machen sollten. Das war aber sehr schwer. Es ist deutlich einfacher gegen die Polizei Kritik aufzufahren als gegen eine städtische Freiwilligenagentur. Das ist natürlich weniger plakativ und die Leute, die da arbeiten, machen ja auch gute Sachen. Aber das hat dazu geführt, dass sich mehr und mehr Leute darauf verlassen haben, von der Agentur per Mail informiert zu werden, wenn sie gebraucht werden und für andere einkaufen sollen. Das blieb wiederum aus, auch weil die Corona-Krise hier nicht so eingeschlagen hat und das Risiko noch relativ überschaubar blieb. Viele Leute hatten italienische Verhältnisse erwartet, als die dann glücklicherweise ausblieben, hat man das dann erstmal an den Nagel gehängt.
Die Selbstorganisierung fand also kurz statt, am Anfang war viel Dynamik und eine hohe Motivation vorhanden. Das ebbte dann ab, obwohl gleichzeitig durchaus eine Politisierung möglich war und progressive Forderungen aufgestellt wurden. Wir denken aber schon, dass es bei einer Wirtschaftskrise Unterstützung geben würde, weil trotz der relativ homogenen Zusammensetzung der Struktur für alle die ganze Zeit klar war, dass es egal ist ob jemand wegen Armut oder wegen Corona am Arsch ist. Diese Solidarität könnte zumindest Ansätze zur Politisierung beinhalten. Ob diese Struktur zu reaktivieren ist, bleibt abzuwarten, es wird dafür aber wohl irgendeinen Anlass brauchen. Die jetzt vorhandene Armut scheint nicht auszureichen, also braucht es schon eine Unterbrechung des Alltags, das scheint zu stimmen.
AND.: Die Wirtschaftskrise fällt natürlich von Land zu Land sehr unterschiedlich aus. Die Arbeitslosen in den USA sind in einer anderen Lage als die Arbeitslosen in der Bundesrepublik. Aber ich glaube, eine Wirtschaftskrise ist dahingehend nochmal etwas Anderes, weil sich die anderen beiden Fragestellungen dann anders beantworten lassen: Die reine gouvermentale Frage zu stellen, also „Wie regiere ich eine Pandemie?“, funktioniert für die Regierung nur zeitlich begrenzt. Freilich ist ein Staat ganz gut darin, in einer Krise entstehende Projekte zu integrieren, da ist eure Freiwilligenagentur der Stadt ein ganz gutes Beispiel. Die vielen freiwilligen Helfenden werden relativ schnell eingebunden und der einzige Protest bleibt dann bei denen, die die Einschränkungen als liberale Frage betrachten und halt gerne wieder ihre normalen Rechte und Konsumgewohnheiten aufnehmen würden. Eine Wirtschaftskrise ist vielleicht aber auch leichter als soziale Frage zu politisieren, wenn es dann darum gehen wird, wie die Kosten der Finanzhilfen wieder eingespart werden sollen. Das ist vielleicht auch gerade für Linke spannend, weil das viele Bereiche trifft und treffen wird, in denen sich viele Linke bewegen. Wenn im Kulturbereich gespart wird, wenn in der sozialen Jugendarbeit gespart wird, wenn in der Wissenschaft gespart wird, was alles unmittelbar vom Staat abhängige Sektoren sind, wenn da dann der Rotstift angesetzt wird und Kosten abgewälzt werden, könnte das ein Moment von Politisierung sein. Ganz optimistisch könnte man sagen, dass wir tatsächlich noch etwas Zeit haben, um uns zu organisieren, diese Krise zu nutzen und unsere Kräfte zu konzentrieren. Es wird aber so oder so spannend, was wir dann aufbauen können – was den Bogen zur Frage nach der Kraftprobe eingangs schließt. Klappt es dann tatsächlich, solidarische Netzwerke zu gründen, die alle drei Dinge tun: sich selber gegenseitig helfen, Forderungen formulieren z.B. solche Kürzungen zu unterlassen, aber auch in der Lage sind, eine Selbstorganisierung zu betreiben und zu stärken die dann auch durchsetzungsfähig ist? An dieser Stelle bin ich mir unklar, ob wir dafür momentan auf ein Hinterher warten, wenn die eigentliche Krise kommt, oder ob wir dafür jetzt schon was tun könnten.
LIKOS: Also da würden wir dir entgegnen, dass das eine falsche Entweder-oder-Frage ist. Es schließt sich ja nicht aus damit zu planen, dass es eine Wirtschaftskrise geben wird und jetzt schon zu versuchen, Überzeugungsarbeit zu leisten oder symbolische Aktionen durchzuführen. Wir hatten zum Beispiel drei Aktionen mit einem Transparent auf dem stand „Höhere Löhne statt Applaus – solidarisch gegen Corona und Ausbeutung“. Damit sind wir vor ein Altenheim, ein Krankenhaus und eine DHL-Packstation gegangen. Die Reaktionen, insbesondere der Arbeiter*innen waren durchweg positiv, daran ist man ja als Linke/r gar nicht mehr unbedingt gewöhnt. Deswegen hatten wir auch nicht viel mehr parat, als die Möglichkeit, mit den Menschen dort zu reden. Im Nachhinein haben wir uns geärgert, dass wir das nicht mit mehr Planung angegangen sind und diese Aktionen für eine Mobilisierung zu einer Kundgebung genutzt haben, die die Corona-Krise sozusagen von links versucht zu politisieren. Aber trotzdem haben wir bei diesen Aktionen schnell gemerkt, dass die Stimmung schon eine etwas andere ist und viele Menschen offener sind für linke Positionen. Da überall in diesen Bereichen auch Linke arbeiten, was ja kein Osnabrücker Spezifikum ist, könnte es vielleicht mal klappen, an dieser Stelle anzusetzen und eine Organisierung voranzutreiben und zu unterstützen.
AND.: Ja das stimmt, Entweder-oder-Fragen sind immer falsch. Ich denke, im Ganzen gibt es in allen drei Bereichen, die wir zur Corona-Krise angesprochen haben, auf jeden Fall Diskussionsstoff: Was Staatskritik angeht, merkt man, wie Nationalstaaten überfordert sind mit einer globalen Pandemie. Es ist bei der Corona-Krise ähnlich wie beim Klimawandel, es zeigt sich einfach, dass es ein Jahrhundert von globalen Fragen wird, die nicht mehr nationalstaatlich zu lösen sind und jeder Glaube an nationale Lösungen wieder in eine staatsfetischistische Überhöhung von Staaten abgleitet, wobei leicht zu zeigen ist, woran die sich blamiert.
Es ist Futter für die Utopie: Wenn den Leuten klar ist, dass solche Kriseneinbrüche kommen können, muss es auch möglich sein, zu verdeutlichen, warum eine Existenzsicherung jenseits von Marktwirtschaft und eben auch öffentliche Infrastruktur notwendig ist – bis hin zur Enteignung und Aneignung. Der kniffligste Punkt ist wahrscheinlich, inwieweit man dazu kommen kann, Formen von Organisierung zu finden, bei denen die Leute einerseits auch lernen können und sich trauen, Fragen zu stellen, und andererseits sich als wirkmächtig wahrnehmen. Im Augenblick habe ich eher das Gefühl, die meisten Menschen fühlen sich eher ohnmächtig und die meisten warten ab, was nun für Maßnahmen beschlossen oder wieder aufgehoben werden. Auch diejenigen, die gerade die Maßnahmen kritisieren, tun das ja eher in so einer klassischen Form – sie protestieren dagegen und schimpfen. So ein Moment, so eine Gelegenheit tatsächlich dazu zu nutzen, sich zu vernetzen und zu organisieren, scheint mir die Aufgabe zu werden für das zweite Halbjahr 2020.
Ich hätte noch eine Entweder-oder-Frage an euch: Sind die Verschwörungsideolog*innen entweder harmlose Spinner oder eine reelle Gefahr?
LIKOS: Irgendwas in der Mitte. Es ist eine Gefahr, sie einfach nur als Spinner abzutun. Was gerade auch in Teilen der Antifa-Bewegung zu beobachten ist. Daniel Kulla hat sinngemäß ganz passend gesagt, dass es nicht sinnvoll ist, einen Wettbewerb darum zu veranstalten, wer den verrücktesten Verschwörungsideologen findet. Natürlich gibt es auch hier in Osnabrück ein paar Leute, die von Chemtrails reden, aber was tatsächlich massentauglich zu sein scheint, ist eine Impfgegnerschaft und die Forderung, die Maßnahmen zurückzufahren. Was aber vor allem bei dieser reaktionären Bewegung gefährlich ist, ist der Moment, in dem sich das mit Interessen von Teilen der Herrschenden überschneidet, wie zum Beispiel die Forderung, die Corona-Maßnahmen zu lockern oder komplett zurückzunehmen. Dabei sind diese Leute ein Stück weit das Fußvolk und führen diese Rolle ja auch aus. Dazu kommt, dass einige, die bei diesen Kundgebungen aktiv sind, auch ein eigenes (klein)- unternehmerisches Interesse haben. Da scheint es uns nicht gerade schlau, sich einfach nur drüber lustig zu machen und den verrücktesten Aluhutträger zu suchen. Denn das sind die nicht alle. Die sind zwar alle verschwörungsideologisch, aber eben nicht alle auf eine so verrückte Art und Weise.
Gleichzeitig glauben wir auch nicht, dass es klug ist, sich nur noch an denen abzuarbeiten. In Osnabrück ist das höchste, was die erreicht haben 70 Teilnehmer_innen. Die Seebrücke oder auch wir hatten bei unseren Kundgebungen ohne großen Vorlauf jedes Mal über 100 Teilnehmer_innen. Nun sind diese Leute aber jeden Samstag in der Innenstadt. Wenn wir als Linke darauf reagieren, indem wir jeden Samstag auch in der Innenstadt sind und gegen die demonstrieren, machen wir halt weniger eigene Aktionen und bringen weniger eigene Inhalte unter die Leute. Wir haben ja alle nur begrenzte Kapazitäten.
AND.: Diese können ja auch tatsächlich nur eine relativ simple Ablenkung sein. Ich bin zwar gerade in Deutschland immer bereit, Verrückte ernst zu nehmen. Allein dass sie verrückt sind, heißt nicht, dass sie nicht gefährlich sind. Sicherlich sind sie zu kritisieren und zu konfrontieren, aber es gehen dabei auch Sachen verloren. Ich habe das Gefühl ich habe in letzter Zeit mehr Kritik an den Aluhüten gelesen als an den Vorschlägen des bayrischen Ministerpräsidenten Söder, man müsste den fixen Acht-Stunden Tag aufgeben, wenn man die Wirtschaftskrise überstehen will. Da ist es sicherlich einfacher, Verschwörungsideolog*innen zu kritisieren, als die tatsächlich in gewissen Kreisen stattfindende Verschwörung, wie bestimmte Rechte abgebaut werden können. Gerade wenn es Interessenpolitik gibt, ist es spannend, wie man es schafft, sich da nicht separieren zu lassen und eine gemeinsame Erzählung zu stiften, die nicht darauf hinausläuft, dass gesagt wird, „Bei mir werden aber die Arbeitsstunden gar nicht erhöht, weil ich in einer Branche bin, in der mich das nicht trifft.“ Da könnte man nochmal eine Wahrheit aus der Corona-Krise gewinnen, dass es zwar nicht stimmt, dass die Krise alle gleichermaßen trifft, aber es schon richtig ist, dass es mal wieder ein Ereignis ist, das auf praktisch alle eine Auswirkung hat. Die Frage ist, ob das nachvollzogen werden kann. Habt ihr den Eindruck, dass bei den Seebrücke-Demos Corona breiteren Kreisen geholfen hat, zu verstehen, dass diese Lager an den EU-Außengrenzen abgeschafft werden müssen?
LIKOS: Ja, wir haben schon das Gefühl, dass es in gewissen Milieus dazu geführt hat, die Flüchtlingspolitik der EU strikter abzulehnen. Das waren zwar schon zum Großteil Leute, die auch vorher nicht in Ordnung fanden, was an den EU-Außengrenzen passiert, aber die Ablehnung wurde strikter – gerade weil es so plakativ ist, 20.000 Menschen in einem Lager für 3000 einzusperren, während sich ein gefährliches Virus verbreitet und überall auf Mindestabstände hingewiesen wird. Die herrschenden Parteien standen auch vor dem Problem, wenn auch nur punktuell, dass dort Menschen auf engstem Raum eingesperrt werden, während ein Virus sich verbreitet und das natürlich zumindest mit den humanistischen Lippenbekenntnissen in Konflikt gerät.
AND.: Also ich denke auch die Leute müssen etwas mitbringen, was aber für alle Bereiche gilt. Wer nicht vorher schon zumindest ahnt, dass die Welt nicht in Ordnung ist, wird sich auch nicht dafür interessieren, die Kritik zu verschärfen. Wo das Vorstellungsvermögen fehlt und nicht wenigstens zu ahnen ist, dass es anders sein könnte, wird es dann auch schwer, Utopien zu bündeln und zuzuspitzen. Wahrscheinlich ist es auch so, dass für einen Prozess von Organisierung gerade diejenigen am meisten ansprechbar sind, die vorher schon damit geliebäugelt haben, sich wieder zu engagieren, sich wieder zu aktivieren. Für die könnte dann die Corona-Krise auch eine Gelegenheit sein, zurückzufinden zu politischem Engagement.
Das versickert in ruhigeren Zeiten auch gerne mal eher zu einem unterirdischen Fluss, der dann in den Stromschnellen der Geschichte wieder an die Oberfläche kommen kann.