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Interview mit Daniel Kulla zu Corona, Verschwörungsideologie und Klassenkampf

Daniel Kulla ist Schriftsteller und Journalist. Er veröffentlichte u.a. Bücher über Rausch und Verschwörungsideologien. Außerdem schreibt er für verschiedene linke Publikationen. Auf seinem Blog https://www.classless.org/ veröffentlicht er regelmäßig Beiträge u.a. auch zu den Themen Corona-Pandemie, Verschwörungsideologien und Klassenkampf. Das Interview wurde per E-Mail geführt.

Für viele Kulturschaffende, Autor*innen und Referent*innen bringt die Corona-Krise massive Einschränkungen mit sich. Viele haben Schwierigkeiten, aufgrund fehlender Auftrittsmöglichkeiten ihren Lebensunterhalt zu sichern. Wie gehst du mit der derzeitigen Situation um?

Ich versuche so wenig wie möglich zur Ausbreitung der Pandemie beizutragen und trotzdem alles zu tun, was weiterhin geht, das heißt vor allem Schreiben und, soweit die Bedingungen es zulassen, Aufnahmen machen. Ich habe aber auch um finanzielle Unterstützung bitten müssen.

Wie würdest du ganz allgemein den Umgang in linken Zusammenhängen mit der Corona-Krise einschätzen? Sind Online-Demos und Live-Streams nur eine hilflose Reaktion auf die derzeitigen Einschränkungen? Oder können derartige „neue Aktionsformen“ auch in Zukunft eine sinnvolle Erweiterung darstellen?

Es ist schwierig da einen richtigen Überblick zu haben. Ich freue mich über alle, die versuchen Pandemieschutz und im weitesten Sinne Organisation zu verbinden, kann aber die jeweiligen Handlungsspielräume und Dringlichkeiten aus der Entfernung gerade auch oft nur schlecht einschätzen. Ebenso wichtig scheint mir die Verbindung von Online- und Offline-Welt, die hierzulande bisher mäßig weit vorangeschritten ist – die diesbezüglichen Defizite treten derzeit deutlich zutage, vielleicht trägt die Quarantäne aber auch dazu bei, dass diese Sphären nicht mehr so getrennt gedacht werden. Um Forderungen und Erklärungen sichtbar zu halten, während sie anders nicht verbreitet werden können, halte ich das Internet auf jeden Fall für unverzichtbar.

Was genau meinst du mit der Verbindung von Online- und Offline-Welt und den diesbezüglichen Defiziten? Kannst du das an einem Beispiel verdeutlichen?

In den USA wurden z.B. die Proteste zum Teil durch Livestreams begleitet, die sich ganz praktisch auf das Geschehen auswirkten – das beginnt sich hier zwar auch alles zu regen, scheint mir im Vergleich aber nach wie vor relativ minoritär und „Neuland“. Deutschland ist vielleicht das einzige Land auf der Welt, in dem das Internet immer noch als etwas Neues gilt.

Warum erhalten deiner Meinung nach Verschwörungsideologien derzeit einen so hohen Zulauf und eine so hohe Aufmerksamkeit in den Medien? Sind solche Ideologien auch bei Linken anschlussfähig? Wenn ja, bei welchen Teilen der „Linken“?

Die Annahme oder Unterstellung übermächtiger verborgener Instanzen kann helfen, ideologische Erzählungen (in der Gegenwart zuallererst die Erzählung von der guten eigenen Nation) zu kitten, wenn sie einen Riss bekommen, wenn sie nicht mehr aufgehen. Auf der individuellen Ebene hat das oft mit realem oder befürchtetem Status- oder Einkommensverlust zu tun, also mit der ausbleibenden Belohnung für die Identifikation mit dem Staat, aber auch konkret mit der Wahrnehmung von Freund und Feind. Wenn es mithilfe dieses Kitts gelingt, die Welt für sich wieder plausibel zu machen ohne an der ideologischen Grunderzählung zu rütteln, kann das auch für andere mit ähnlichem Riss im Weltbild attraktiv werden, und diejenigen, die den Kitt anbieten, werden als Wortführende einer Bewegung in ihrem Status real aufgewertet. Auch Linke können sich an solchem Kitt bedienen oder ihn erzeugen, sofern sie ideologische Erzählungen zu reparieren haben – in den letzten Wochen dürfte das vor allem passiert sein, um die eigenen Gewohnheiten und sozialen Milieus vom Pandemieschutz ausnehmen zu können, es gibt aber auch manche mit stärkerer Haftung an der Nation. Bislang würde ich aber nicht behaupten, dass das wirklich viele Linke betrifft.

Inwiefern würdest du den Positionen eines Teils der Teilnehmer*innen an den sogenannten „Hygienedemos“ eine Berechtigung zugestehen?

Sofern seit Beginn der Pandemie für besseren Schutz, gegen rassistische und sonstig diskriminierende Sonderbehandlung protestiert wurde, war das trotz des dadurch kurzzeitig erhöhten Infektionsrisikos wohl gut und wichtig – diese Zielrichtung war bei den genannten Demos jedoch so gut wie nicht vertreten. Vielmehr ging es zuallererst gegen den Pandemieschutz selbst, ging es um dessen direkte Unterlaufung, mehr oder weniger bewusst zur vollen Wiederherstellung der allgemeinen Mehrwertproduktion. Soweit staatliche Willkür thematisiert wurde, lag bis auf wenige Ausnahmen der Schwerpunkt darauf, dass es zur Abwechslung mal einen selbst erwischt statt derjenigen, die es richtigerweise sonst immer erwischt.

Viele Leute auf Seiten der sog. Hygiene-Demos sind der Ansicht, Bill Gates sei der Urheber des Corona-Virus, das Virus sei harmlos oder gar eine Lüge. Was wäre dein Erklärungsansatz, warum sich die Ideologie der Verschwörungsideolog*innen gerade so zusammensetzt?

Um den Laden wieder voll laufen zu lassen, musste die Realität der Pandemie irgendwie aus dem Weg geschafft werden. Da sich die Rede von der Harmlosigkeit mit wachsenden Totenzahlen und größerer Nähe immer schlechter aufrechterhalten ließ, musste tiefer in die Trickkiste gegriffen werden – das klingt jetzt mehr nach Manipulation, dürfte aber vor allem Überzeugung sein. Ideologie hilft die Welt ans Bild von ihr anzupassen. Insofern wird die auch sonst übliche Gegenüberstellung des guten eigenen und des bösen anderen Kapitals nun in dieser Weise verschärft: Attila Hildmann wirft Gates ja gerade vor, sein Vermögen nicht weiter vermehren zu wollen, sondern außerökonomische und niederträchtige Motive zu hegen. Die Pläne des Monopolkapitals stehen dem eigenen Geschäftserfolg und damit dem Erfolg der Nation im Weg. Wie relevant dieser konkrete Kitt noch wird, hängt sicher sehr davon ab, ob der ganz gewöhnliche Nationalismus die schon teilweise etablierte Gleichgültigkeit gegenüber dem anhaltenden Sterben und Leiden weiter ausbauen kann.

Lächerlich machen oder ernst nehmen? Blockieren oder diskutieren? Was wäre eine wirksame Gegenstrategie, um diesen Protesten zu begegnen? Wie kann eine klare Abgrenzung einer emanzipatorischen Linken gegenüber autoritären Lösungen und den Forderungen nach einer Wiederherstellung des kapitalistischen Normalzustandes aussehen?

Es gibt nach wie vor das gleiche zu tun wie immer. Einerseits müssen die Abwehrkämpfe gegen die handgreiflichen und immer wieder tödlichen Verwirklichungen all der Ideologie, sei es aus Richtung faschistischer Gruppen oder aus Richtung der Staatsgewalt, geführt und Solidarität mit den Betroffenen geleistet werden. Andererseits geht es darum, der ganzen Ideologie ihre Grundlage, die herrschaftliche Konkurrenz, durch möglichst egalitäre Zusammenschlüsse zu entziehen, am besten direkt um die eigene Arbeits- und Lebensrealität herum. Für beides ist die häufige Abgrenzung im Sinne von Distinktion, Lächerlichmachung, Gegenabwertung usw. hochgradig kontraproduktiv. Es sollte mehr erklärt, gekämpft, sich zusammengetan und umeinander gekümmert werden statt sich auf die Brust zu schlagen, Ideologie zu pathologisieren und ums krasseste Bekenntnis zu wetteifern.

Aktuell und auch perspektivisch wird die Corona-Krise und die Wirtschaftskrise für viele Menschen schwerwiegende Veränderungen verursachen. Widerstand dagegen in Form von Klassenkampf findet nur punktuell statt und wird in der Öffentlichkeit so gut wie gar nicht wahrgenommen. Was braucht es, damit die Menschen die Corona-Krise auch als ein Problem des Kapitalismus begreifen und sich, abseits von Forderungen an den Staat, selbst organisieren und ihre eigenen Interessen vertreten?

Die Beispielwirkung von Arbeitskämpfen ist weiterhin trotzdem das Beste, was wir haben – wie umsichtig die FAU Bonn die streikenden Erntearbeitskräfte in Bornheim unterstützt hat, finde ich vorbildlich, daran sollte angeknüpft werden. Aber generell sind das lange Prozesse, die anzustoßen sind, wie am „Streikzug“ der NGG Ost zu sehen ist, der durch den erfolgreichen Arbeitskampf bei Teigwaren Riesa seit Monaten immer mehr Fahrt aufnimmt und in zahlreichen Betrieben mittlerweile eine ganz reale Organisationswirkung hat. Diese ganz reale Erfahrung von durchsetzungsfähigen Zusammenschlüssen, das Kennenlernen der anderen Arbeitskräfte um einen herum und in den anderen Betrieben, die entstehenden Verknüpfungen in andere Lebenslagen und Konfliktfelder sind die günstigste Grundlage für die Erkenntnis, wer den ganzen Laden schmeißt und wie – und wer ihn auch gleich ganz selbst schmeißen kann.

In der Corona-Krise werden an einigen Stellen besonders schlechte Arbeitsbedingungen und Beschäftigungsverhältnisse sichtbar. Die Situation von Arbeiter*innen z.B. in der Pflege und in der Fleischindustrie wird problematisiert. Tätigkeiten, die als „systemrelevant“ eingeordnet werden, werden mit Applaus bedacht, die Arbeiter*innen werden als aufopferungsvolle „Held*innen“ stilisiert. Was können die Arbeiter*innen tun, um diese Aufmerksamkeit für konkrete Verbesserungen ihrer Situation zu nutzen? Wie kann die Linke an dieser Stelle unterstützen?

Es steht zu befürchten, dass das eher besserverdienende schlechte Gewissen, das da applaudiert und sich empört hat, als Verbündeter für weitergehende Kämpfe nicht viel taugt – zu deutlich war das als Ersatz für Verbesserung der Arbeitsbedingungen gedacht, zu schnell ging es auch bei Bornheim um die Änderung des eigenen Konsums. Die erhöhte Sichtbarkeit könnte trotzdem dazu beitragen, dass sich andere Betroffene aus der Deckung wagen – und das sollte unter allen Umständen unterstützt und geschützt werden. Ich denke, auch hier ist nicht viel Neues zu sagen: stattfindende Kämpfe unterstützen und verbinden, praktische Hilfe leisten, sie an die passende große Glocke hängen, sich mit der eigenen Welterklärung zurückhalten (außer sie passt wirklich mal oder wird wirklich nachgefragt), und so möglichst viele Beispiele schaffen, die möglichst viele Beispiele schaffen usw. usf.

Einerseits sollten linke Unterstützer*innen von Arbeitskämpfen eigene Analysen und Forderungen zugunsten der Forderungen der Arbeiter*innen zurücknehmen („sich mit der eigenen Welterklärung zurückhalten“). Andererseits ist es unserer Meinung nach problematisch, nicht klar zu kommunizieren, wer denn da eigentlich unterstützt. Vor dem Hintergrund, dass gerade osteuropäische Arbeiter*innen ein Problem mit dem Begriff „Kommunismus“ haben dürften, könnte dies zu Problemen führen. Wie würdest du mit dieser Situation umgehen?

Ich finde das in der Sache nicht schwierig – die Kämpfe unterstützen und auftretende Fragen zum weiteren Vorgehen, zur Rahmensituation und natürlich auch zur eigenen Motivation beantworten. Das Problem hat eher was mit Rollen- und Redeverhalten zu tun, inwiefern sich also auf Augenhöhe begegnet bzw. das zumindest so gut wie möglich angestrebt wird, inwiefern die innerlinke Konkurrenz auch im Rahmen dieser Kämpfe ausgetragen werden muss, sich mit ihnen eher geschmückt werden soll als sie um ihrer selbst und aller willen zu unterstützen.

Wie schätzt du die Proteste in den USA im Zusammenhang mit der Ermordung George Floyds ein? Kann bezüglich der Heftigkeit der Proteste ein Zusammenhang gezogen werden zum Einfluss der Corona-Krise, die ja die schwarze Community in einem besonders schlimmen Maße trifft?

Dazu gäbe es sehr viel zu sagen – in aller Kürze: die plötzliche Massenarbeitslosigkeit und die überproportionale Betroffenheit durch die Pandemie haben diese Proteste sicherlich mit entzündet und so groß werden lassen, sie haben aber eine lange Vorgeschichte von immer neuen Aufständen und Protesten bis in die jüngste Vergangenheit sowie von der Erfahrung des Ausbleibens eines grundlegenden Wandels. Bisher beeindruckt mich, wie sich (nicht nur) in den USA nun die Sphären und Kämpfe verbinden. Vor zwei Wochen schrieb ich dies:

„‚Tikkun Olam heißt Black Lives Matter‘ rufen jüdische Aktivisten derzeit in den USA und auch in Deutschland und erklären so das Anliegen der Proteste zu einer der Scherben, in die eine Menschheit zersplittert ist, die wieder zusammengeführt werden muss. ‚Pride is a riot‘ stand auf dem Transparent, das von Demonstrierenden über dem Stonewall Inn angebracht wurde, bevor sie sich als NYC Pride den übrigen Protesten in Massen anschlossen. ‚Krankenschwestern haben gegen Covid-19 gekämpft, jetzt kämpfen wir gegen die Cops‘ hatte Jillian Primiano auf ihr Schild geschrieben, bevor sie die Straße für genau diese Proteste freihalten half. Mit ‚We All We Got, We All We Need‘ (‚Wir sind alles, was wir haben, wir sind alles, was wir brauchen‘) wird in New York zu den Protesten aufgerufen. Nicht vergessen, worin unsere Stärke besteht!“

(Mit Unterstützung der antifaschistischen Hochschulinitiative der Universität Osnabrück)