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…und raus bist du! Armut in Deutschland – Ein Spa(h)n vom Block bürgerlicher Ideologie

Brutale, menschenverachtende und durch ihre Verhöhnung von Opfern dieser Gesellschaft regelrecht Brechreiz auslösende Stellungnahmen gehören im Deutschland der Gegenwart ganz selbstverständlich zum herrschenden Diskurs, auch und besonders wenn es um Armut geht.

Ob da ein Kanzler Schröder davon spricht, es gebe „kein Recht auf Faulheit“, oder FDP-Westerwelle Arbeitslosen „spätrömische Dekadenz“ attestiert: Sie alle drücken ein Denken aus, das in Wirtschaft, Politik und Medien vorherrscht. Auch jüngere Äußerungen wie z.B. von Peter Tauber (CDU): „wenn Sie was Ordentliches gelernt haben, brauchen Sie keine drei Minijobs“ zeigen deutlich, woher der Wind weht.

Entzündet hatte sich die aktuelle Debatte an der rassistischen Praxis der Essener Tafel, die auf Verteilungskämpfe unter ihren „Kund_innen“ mit dem zeitweisen Ausschluss von nicht-deutschen Bedürftigen reagierte.

„Wer ist denn hierzulande schon arm?“

Nun hat also Jens Spahn, seines Zeichens Gesundheitsminister im neuen Merkel-Kabinett, ebenfalls in das Horn des nur schlecht verhüllten Hasses gestoßen. Er verkündete den Bedrängten und Ausgeschlossenen, das Hartz4-Regime bedeute gar nicht Armut. Vielmehr sei das, was ihnen täglich zugemutet wird, „die Antwort unserer Solidargemeinschaft auf Armut“. Schließlich habe Deutschland „eines der besten Sozialsysteme der Welt“.

„Damit hat jeder das, was er zum Leben braucht.“ kanzelte der Berufspolitiker und gelernte Bankkaufmann jede Kritik ab, die darauf hinwies, dass ohne das System von beinahe 1000 sogenannten „Tafeln“ im ganzen Land viele der dem Hartz4-System unterworfenen Menschen nicht einmal genug Mittel hätten, um sich zu ernähren.

„Geht mal arbeiten!“

Vertreter der sogenannten „Arbeitgeber_innen“ – des Kapitals – sprangen Spahn natürlich zur Seite und betonten, dieser habe Recht, man bekämpfe Armut schließlich nicht, indem man über die Höhe der Regelsätze diskutiere (BDA-Hauptgeschäftsführer Steffen Kampeter).

Interessant, wie in dieser Gesellschaft, in der sich soziale Beziehungen zunehmend auf „bare Zahlung“ reduzieren, die herrschende Klasse so gar nicht über den Preis der Armut diskutieren möchte. Stattdessen müssten laut Kampeter „die Anreize für Arbeit erhöht werden“. Was die Formulierung „Anreize erhöhen“ in der Lesart der vorherrschenden Leistungs- und Nützlichkeitsideologie bedeutet, ist nicht schwer zu prophezeien: nämlich eine noch weiter verschärfte Drangsalierung und Sanktionierung der vorgeblich „faulen“ und „arbeitsunwilligen“ Menschen.
Fundamentale Kritik? Fehlanzeige!

Eine Reaktion aus den Reihen der SPD auf diese Debatte war die Forderung nach einem sog. „solidarischen Grundeinkommen“. Dabei soll die „Grundsicherung“ mit der Pflicht zur gemeinnützigen Arbeit verknüpft werden. So wird aber nur alter Wein in neuen Schläuchen verkauft, das System der Disziplinierung und Sanktionierung bliebe unangetastet. Derartige Zwangsmaßnahmen mit dem positiv besetzten Begriff „solidarisch“ zu bezeichnen kann eigentlich nur Sozialdemokrat_innen einfallen.

Aus der Partei „Die Linke“ drangen als Reaktion auf Spahns Äußerungen Vorwürfe des „Realitätsverlusts“, „Arroganz“ und sogar Rücktrittsforderungen an die Öffentlichkeit. Eine grundsätzliche Kritik am Hartz4-System ist aber auch hier nicht zu finden. Forderungen aus der Linkspartei z.B. nach Erhöhung der Regelsätze und auch die jüngst geäußerten Rufe nach Abschaffung der Hartz4-Sanktionen bleiben weiterhin innerhalb dieses menschenverachtenden Systems.

Und als wäre es nicht ohnehin vorhersehbar gewesen: Die SPD-Spitze kann der Forderung nach Abschaffung der Sanktionierung natürlich nichts abgewinnen, sondern setzt weiterhin auf das Prinzip des „Förderns und Forderns“. Kein Wunder bei einer Partei, die das Hartz4-System installiert und jahrelang verteidigt hat.

Was hat der Staat davon?

Mit der Einführung von Hartz4 verschlechterte sich die ohnehin schon triste Lage von Lohnabhängigen, insbesondere von Arbeitslosen, zusehends. Handelte es sich bei den (Langzeit-)Arbeitslosen auch schon vor den Hartz-Reformen um eine marginalisierte Gruppe, so wird diese Situation durch den extrem niedrigen Regelsatz und die Demütigungen und Schikanen der Jobcenter gegenüber ihren „Kunden“ – wie die Leistungsempfänger_innen zynisch genannt werden – noch verschärft.

Halten sich die vom Jobcenter betreuten Arbeitslosen nicht an die in der Eingliederungsvereinbarung enthaltenen Regelungen, erscheinen sie nicht zu den Terminen bei ihren Arbeitsvermittler_innen oder weigern sie sich, eine „zumutbare“ Beschäftigung anzunehmen, kann der Hartz4-Satz im Rahmen einer Sanktion gekürzt werden.

„Fördern und Fordern“

Das hängt in erster Linie mit dem Prinzip „Fördern und Fordern“ zusammen, das im Sozialgesetzbuch II verankert ist. Das „Fördern“ beschränkt sich hierbei lediglich darauf, dass der Staat Arbeitslosen gerade das zum Leben Notwendige gewährt. Im Gegenzug wird von den Arbeitslosen gefordert, dem Arbeitsmarkt jederzeit zur Verfügung zu stehen.

Das heißt auch, dass sie vom Staat in Richtung Beschäftigungsaufnahme in jene Branchen gedrängt werden, die es schwer haben, Arbeitskräfte zu finden. Diese Branchen zeichnen sich durch besonders prekäre und schlecht bezahlte Arbeitsverhältnisse sowie geringe Qualifikationsniveaus aus. Dies hat den Effekt, dass der Niedriglohnsektor ausgeweitet wird und Zeitarbeitsfirmen florieren. Die Ironie dabei ist, dass trotz eines Beschäftigungsverhältnisses die Hilfebedürftigkeit nicht zwingend wegfällt und die Abhängigkeit vom Jobcenter für diese sogenannten „Aufstocker_innen“ fortbesteht.
Doch nicht nur Hartz4-Bezieher_innen sollen durch die Angst vor dem Verlust der Lebensgrundlage „aktiviert“ werden, um die Nachfrage nach billigen Arbeitskräften zu bedienen. Auch bei Beschäftigten oder ALG1-Empfänger_innen macht sich Angst breit: Angst vor dem sozialen Abstieg. Das bewirkt, dass sie sich umso bereitwilliger den für sie negativen, für das Kapital aber positiven Entwicklungen auf dem Arbeitsmarkt fügen.

Wird eine Sanktion angeordnet, also das knapp bemessene Existenzminimum beschnitten, zeigt sich der Staat vermeintlich gönnerhaft und lässt durch das Jobcenter Lebensmittelgutscheine ausstellen. Das Einlösen solcher Lebensmittelgutscheine trägt zur weiteren Stigmatisierung der Betroffenen bei. Schließlich ist es erniedrigend, an der Supermarktkasse allen Umstehenden zeigen zu müssen, dass man den kapitalistischen Verwertungsansprüchen nicht genügt.

Die Funktion der „Tafeln“

Genauso demütigend fühlt es sich an, die benötigten Lebensmittel bei der Tafel zu beschaffen. Supermärkte stellen fast abgelaufene oder aussortierte Lebensmittel zur Verfügung, die von den Mitarbeiter_innen der Tafel kostenfrei oder zu einem niedrigen Preis – wie Almosen – an die Bedürftigen verteilt werden. Zu diesen Bedürftigen gehören neben Rentner_innen und Geflüchteten auch besonders viele Arbeitslose. Gerne werden diese Gruppen, wie es aktuell der Fall ist, gegeneinander ausgespielt.

Dass so viele Arbeitslose auf die Unterstützung der Tafeln angewiesen sind, müsste stutzig machen, liest man in § 1 SGB II doch, Hartz4 solle ein Leben ermöglichen, das der Würde des Menschen entspricht. Die Realität der Hartz4-Bezieher_innen hat mit einem menschenwürdigen Leben jedoch wenig zu tun.

Tatsächlich verlässt sich der Staat auf die Arbeit der Tafeln: Solange die Tafeln von Sozialleistungen Abhängige nahezu kostenfrei mit Lebensmitteln versorgen, kann so getan werden, als würden diese Sozialleistungen – wie eben Hartz4 – zum Leben reichen und müssten nicht erhöht werden. So subventionieren die Tafeln das System Hartz4 und wirken als Katalysator für Armut.

Ideologie der Armut

Die negativen Äußerungen über ALG2-BezieherInnen in der aktuellen Debatte sind nicht nur Mittel zum Zweck – vielmehr sind sie Ausdruck bürgerlich-kapitalistischer Ideologie, die sowohl von den Funktionsträger_innen von Staat und Kapital, als auch von großen Teilen der ausgebeuteten Bevölkerung innerlich aufrichtig für die „Wahrheit“ gehalten wird.

Eine Gesellschaft, deren Funktionieren darauf beruht, alle ihre Mitglieder als vereinzelte Personen, mit auf sie allein bezogenen Rechtstiteln, vor allem dem auf Privateigentum, zu definieren, hat durch diese Sichtweise die Neigung, alle Verantwortung sowohl für Aufstieg, als auch fürs sogenannte „Scheitern“ beim Individuum zu suchen.

„Selber schuld“

Versinnbildlicht wird dies in dem Sprichwort „Du bist deines eigenen Glückes Schmied“. Gut beobachten lässt sich dieses Denken in der immer absurdere Züge annehmenden „Selbstoptimierung“ der Leute, von der Zweitsprache in der Grundschule bis hin zum Fitness-Studio.

Diese ideologischen Scheuklappen blenden den Blick auf den Klassencharakter der Gesellschaft aus: dass einige Wenige fast alles und die Mehrheit sehr wenig bis gar nichts besitzt und dadurch auch die Chancen auf Bildung, Karriere und „Erfolg“ extrem ungleich verteilt sind und sich oft sozial vererben.

Auch die logisch zwingende Erkenntnis, dass jede Konkurrenz, sei es um Studienplätze, Lohnarbeitsstellen oder Marktanteile immer Verlierer produzieren muss, wird zugunsten einer Sicht beiseite geschoben, in der es ein persönlicher moralischer Makel des/der Einzelnen ist, wenn er/sie nicht zu den „Erfolgreichen“ gehört.

„Die haben doch alles“

Der Hass und die Verachtung, die Hartz4-Bezieher_innen entgegenschlägt, ist auch Folge von durch die Zurichtung in Schule und Lohnarbeit unterdrückten Bedürfnissen, die der bürgerlich-kapitalistischen Ideologie zuwiderlaufen. Da haben doch Menschen tatsächlich eine Menge Freizeit, stehen scheinbar nicht unter dem Zwang, ständig wachsende, fremdbestimmte Anforderungen erfüllen zu müssen und können es sich „in der sozialen Hängematte“ gut gehen lassen.

Diese absurden Vorstellungen haben mit der tatsächlichen Existenz als Hartz4-Bezieher_in nichts zu tun, was ihrer Wirkungskraft jedoch keinen Abbruch tut. Dass die dahinter stehenden Wünsche zum Überleben unterm Kapitalismus permanent unterdrückt werden müssen, macht die Bestrafungsphantasien gegen die scheinbar „glücklichen Arbeitslosen“ umso brutaler.

Dass in Wirklichkeit das Leben unter der Knute der Jobcenter die Unterwerfung unter einen regelrechten ideologischen Staatsapparat ist, der extra dafür entworfen wurde, den Arbeitslosen Disziplin, Entsagung und unbedingten Gehorsam einzuprügeln, merken manche Menschen erst, wenn sie selbst damit konfrontiert werden. Viele leider selbst dann noch nicht.

Armut und Rassismus

Auf bürgerlicher Ideologie gründende Verachtung von Armen wird in Deutschland heute wieder ganz offen mit Rassismus verbunden, wie die Debatte um die Essener Tafel gezeigt hat. Das jüngste Beispiel lieferte FDP-Chef Lindner, der im „Focus“ verkündete: „Und es darf nicht der Eindruck entstehen, Hartz 4 sei ein Grundeinkommen, das ein Clanmitglied irgendeiner libanesischen Bande in Berlin automatisch überwiesen bekommt.“

Das Ressentiment von den „faulen Arbeitslosen“ wird hier um das der parasitären und kriminellen Ausländer_innen ergänzt. Die rassistische Ausgrenzung auf dem Arbeitsmarkt wird zur Begründung ihrer erneuten rassistischen Diffamierung als ausländische Arbeitslose, die den fleißigen deutschen Untertanen „auf der Tasche liegen“. Ein für Ideologien typischer Teufelskreis der grotesk falschen, aber wirksamen Selbstbestätigung.

Aktiv werden – Im Handgemenge der sozialen Realität

Wer mit den hier geschilderten Unterdrückungs- und Ausbeutungsformen Schluss machen will, die durch bürgerliche Ideologie gerechtfertigt und aufrecht erhalten werden, muss an der sozialen Basis ansetzen, muss als selbst Betroffene/r Solidarität gegen die Zumutungen organisieren, ob in Stadtteilprojekten, Basisgewerkschaften oder in Betrieben.

Eine andere Gesellschaft wird nur dann möglich, wenn wir in der sozialen Wirklichkeit für sie kämpfen. Für den Kommunismus!