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Antifaschismus International Texte

Nach dem 7. Oktober 2023. – Eine Auseinandersetzung.

Dieser Text ist für die Zweifler, für die, die sich nicht direkt einordnen (können oder wollen), die unsicher sind wegen der vollkommen bekloppten Debatte in der BRD und in der Linken. Dieser Text ist im vollen Bewusstsein seiner Unvollständigkeit entstanden. Ihn aus diesen Gründen noch weiter hinauszuzögern, stellt für uns aber keine Option dar.


Am 7. Oktober griff die Hamas bei einer großangelegten Terroraktion Israel an. Die Islamisten massakrierten dabei mindestens 1200 vorrangig israelische Zivilist:innen, verschleppten mehr als 250 Israelis als Geiseln in den Gazastreifen und verübten damit das größte organisierte Massaker an Jüdinnen und Juden seit der Shoah. Ein Ziel der Hamas war es u.a., die politischen Bestrebungen zur Normalisierung der Beziehungen zwischen Israel und Saudi-Arabien zu verhindern. Sie setzte dabei gezielt auf die Eskalation des Konflikts, wobei angenommen werden kann, dass die Hamas sich genau die Reaktion Israels erhoffte, die von der ultrarechten Regierung unter Netanjahu zu erwarten war und erfolgte. Bei Netanjahu und seinen Bündnispartnern handelt es sich schließlich um Hardliner, die nun vor der Verantwortung stehen, einen solch brutalen und widerlichen Angriff der Hamas auf Israel nicht vereitelt zu haben. Konkreter ist es ihnen u.a. deswegen nicht gelungen, weil das israelische Militär damit beschäftigt war, illegale Siedlungen zu bewachen.

Ebenso ist der Angriff vom 7. Oktober nicht zu verstehen, ohne den ideologischen Unterbau und den propagandistischen Überbau des eliminatorischen Antisemitismus der Hamas und ihrer Verbündeten zu berücksichtigen.

Dass die Hamas bei ihrem Krieg gegen Israel nicht dazu in der Lage und willens ist, zwischen Menschen mit verschiedenen Positionen und Haltungen zum israelisch-palästinensischen Konflikt zu unterscheiden, zeigt die Wahllosigkeit des Massakers am 7. Oktober. Denn viele Bewohner:innen der Kibbuze nahe dem Gazastreifen, sowie Besucher:innen des „Supernova Sukkot Gathering“ Festivals, waren gerade jene, die sich für eine friedliche Lösung einsetzten, teilweise im Gazastreifen Unterstützung leisteten und gegen die Siedlungspolitik im Westjordanland eintraten. Teils wurden Friedensaktivist:innen sogar gezielt angegriffen. Viele dieser Friedensaktivist:innen sind ihren Prinzipien auch während und nach des Angriffs treu geblieben, wie z.B. die Bewohnerin eines der angegriffenen Kibbuzim, die noch während des Angriffs in einem Radiointerview vor dem zu erwartenden Gegenschlag warnte und den Angriff selbst nicht überlebte oder ein Israeli, der nach der Geiselnahme seines Bruders mit seinem Plädoyer an die israelische Regierung durch die Medien ging. Die Islamisten bekräftigten hierdurch erneut ihren Willen zur Vernichtung jüdischen Lebens im Allgemeinen.

Während sich Israel direkt im Anschluss an die Terrorattacke der Hamas noch der Solidarität vieler Menschen und Staaten sicher sein konnte, schwindet diese Solidarität mit der Dauer der israelischen Militäroffensive im Gazastreifen zur „Zerstörung der Hamas“. Hierbei können sowohl Israel als auch die Zivilbevölkerung des Gazastreifens insofern nur verlieren, als dass sich die Führung der Hamas keinen Deut um diese Zivilbevölkerung schert. Ersichtlich wird das u.a. an der Asymmetrie eines ausgefeilten Tunnelsystems für die Hamas auf der einen und fehlender Infrastruktur, wie Bunker, für die Zivilbevölkerung auf der anderen Seite.

Schließlich sind die Menschen im Gazastreifen für die Hamas doch auch Instrumente zur Durchsetzung der eigenen Ziele: Es sind Bilder toter Palästinenser:innen, die die Hamas braucht, um diesen Krieg medial zu führen und Israel zu dämonisieren. In diesem Kalkül kann ein toter Mensch mehr zählen als ein lebender Mensch. Der Status als Terrororganisation kommt der Hamas dabei sogar noch zu Gute, da die Maßstäbe, die an den Staat Israel angesetzt werden, für die Hamas nicht gelten, bzw. die Wenigsten von einer Terrororganisation erwarten, sich an das Völkerrecht zu halten. Obwohl bekannt ist, dass die Hamas Hilfsmittel und Gelder unterschlägt und die Zivilbevölkerung benutzt, bleibt festzuhalten, dass z.B. dem Aufbau von zivilen Schutzvorrichtungen durch die Abriegelung Gazas natürlich Grenzen gesetzt sind.

Gleichzeitig interessiert auch die israelische Armee sich nicht ernstzunehmend für jene Zivilbevölkerung. Hier sei nur auf die Flächenbombardements, die Unterbrechung der Stromversorgung, verschmutztes Trinkwasser sowie Medikamenten- und Nahrungsmittelknappheit verwiesen. Auch die gerne zitierten Warnungen vor Bombardierungen von Wohnhäusern seitens der israelischen Armee erweisen sich bei genauerer Betrachtung als mindestens unzureichend, da auch sie den Bewohner:innen weder genügend Zeit oder Orte zum fliehen garantieren. Auch die Möglichkeit einer Warnung über den Mobilfunk sowie einer anschließenden Kommunikation auf der Flucht ist eingeschränkt, durch regelmäßige Ausfälle des Mobilfunknetzes.

Die zunächst einfach klingende Formel der Zerstörung der Hamas, die die israelische Regierung wie ein Mantra wiederholt, ist bei genauerer Betrachtung ideologischer Unsinn. Denn Grundlage einer realen Zerschlagung wäre die Vernichtung islamistischer und antisemitischer Ideologie und der materiellen Grundlagen, die sie produzieren. Die Zerschlagung der PLO führte schließlich nicht zur Beruhigung der Konflikte an der israelischen Nordgrenze, sondern zur Etablierung der Hisbollah unter Führung Irans, die bis heute eine noch größere Bedrohung für Israel darstellt, als die Hamas. Parallel dazu nutzt die radikale Rechte Israels unter maßgeblicher Führung Ben-Gvirs (selbst nicht zufällig Bewohner einer illegalen Siedlung) und ideologischer Weggefährten die schreckliche Situation aus, um die jüdische Bevölkerung Israels gegen die muslimischen Minderheiten zu mobilisieren und betreibt fruchtbare Propaganda zur Aufstachelung der Gesellschaft entlang ethno-religiöser Deutungsmuster. Die Früchte dieser Propaganda: Siedler:innen nutzen die Situation für Angriffe bis Morde an Palästinenser:innen, teils unter „Schutz“ der Armee. Iran, dessen Beteiligung an der Planung und Ausstattung im Vorfeld der Terrorangriffe wahrscheinlich ist, bringt derweil seine verlängerten militärischen Arme in Syrien, Libanon und Jemen in Stellung und offenbart damit eindrücklich, jene hegemoniale Rolle im Nahen Osten einnehmen zu wollen, die das Mullah-Regime den USA, stets moralisch aufgeladen, vorwirft. Ob dies der Realität gerecht wird oder mehr dem Wunschdenken der Iranischen Regierung und der von ihr herbeigesehnten Kontrolle über die Region entspricht, ist unklar.

Was die jeweilige mediale Aufbereitung des Konflikts angeht, führt die Tatsache, dass es sich bei Israel um die einzige liberale Demokratie (bei aller Kritik, die Kommunist:innen zurecht am Liberalismus üben) des Nahen Ostens handelt u.a. dazu, dass israelische Medien im Gegensatz zu sonstigen lokalen und regionalen Medien keine ausschließliche Propaganda im Sinne der israelischen Regierung verbreiten – auch wenn in den letzten Jahren eine starke Marginalisierung kritischer Medien stattgefunden hat. Wie bei den Massenprotesten gegen die Justizreform der Netanjahu-Regierung, ist eine israelische Zivilgesellschaft hervorzuheben, die sich nicht uneingeschränkt hinter die Regierungspolitik stellt, sondern Nachfragen zum militärischen Vorgehen formuliert und es kritisch begleitet. Was davon in der internationalen bürgerlichen Öffentlichkeit wie verhandelt wird, steht auf einem anderen Blatt. Was hingegen, wenn überhaupt, nur vereinzelt in die Debatten Eingang findet, sind die Proteste gegen die Hamas in Gaza, teils weil sie von der Hamas selbst unterdrückt werden, teils weil die Zivilbevölkerung kaum Zugang zu Medien hat und weite Teile der (internationalen) Presse diese mitsamt der Repression, die sie niederhält, ignorieren. Ganz zu Schweigen von den zahlreichen Friedens- und Mediationsinitiativen vor Ort sowie im Ausland, die keiner der Parteien, die einen Anreiz am Aufrechterhalten des Konflikes haben, so recht in den Kram passen. Was stattdessen festgestellt werden kann, ist eine Tokenisierung beider Betroffenengruppen, in Form einer Stilisierung von Randgruppen oder Individuen zu Repräsentant:innen der jeweils anderen „Seite“, um sich selbst und der eigenen harten Position eine bessere Legitimation zu verschaffen. Der Anspruch, die Realität abbilden zu wollen, bleibt dabei außen vor.

Auch wir, beim Schreiben dieses Textes, können uns nicht davon ausnehmen, auf die jeweiligen politischen Oppositionen innerhalb der Bevölkerungsgruppen zu rekurrieren, wo sie unserem Verständnis von politischer Theorie und Praxis nahestehen. Daraus machen wir aber keinen Hehl. Auch hält uns das nicht von einer allgemeiner gefassten Solidarität mit den jeweils viktimisierten Menschen ab, da Betroffene in unserem Vertständnis keine Heiligen sein müssen (und es nie waren), um humanistische Mindeststandards für sich geltend zu machen. Solidarität ist keine Transaktion.

International und in besonderer Form in Deutschland führt der Konflikt wiederum, wie eh und je, zu Projektionen noch und nöcher – von der Rechten, über die sogenannte Mitte bis hin zu Teilen der Linken. Auf der einen Seite finden sich jene, bei denen es scheint, als hätten sie sich nach einem solchen Terrorakt der Hamas inklusive des entsprechenden Gegenschlags seitens Israel gesehnt, bei denen es scheint, als freuten sie sich über jeden toten Menschen im Gazastreifen. Das Gegenstück bilden diejenigen, die noch vor der Gegenoffensive Israels den Terror der Hamas im „besten“ Fall trotz, im schlimmsten Fall gerade wegen der zivilen Opfer auf israelischer Seite feierten und damit ihre antisemitische Fratze entlarvten. Nach dem 7. Oktober stieg die Anzahl von Angriffen auf jüdische Gemeinden in Europa, in den USA und anderswo rapide an. Wo jüdische Institutionen im Namen einer Kritik an Israel angegriffen werden, zeigt sich eindrücklich, dass es nicht bei jeder vermeintlichen Kritik tatsächlich um Israel geht, sondern um blanken Antisemitismus.

Auf Ereignisse historischen Ausmaßes folgt bei vielen Menschen eine Phase der Rationalisierung entsprechend der jeweils bereits eingenommenen ideologischen Position, mit welcher die Welt erklärt und/oder mit Sinn gefüllt wird: Für einige pro-palästinensische Menschen bedeutet dies die Verklärung der terroristischen Handlungen der Hamas zum Befreiungskampf der Palästinenser:innen, mit teils abstrusen politischen Schlussfolgerungen. Besonders ersichtlich werden diese an den gebildeten Allianzen, z.B. mit glasklar islamistischen Organisationen. Eine Demo, deren Spitze von solchen gebildet wird, ist kein Ort für eine emanzipatorische, radikale Linke. Nicht überall wo radikal links draufsteht, ist radikal links drin. Auch weil Antisemitismus fähig ist, unter falscher Flagge zu segeln, stellt er ein so gutes Bindeglied in braun-roten Allianzen dar. Auch Teile des Kulturbetriebs zeigen, in genau diesem Impuls sich einen radikalen Anstrich geben zu wollen, wie schon bei der BDS- Kampagne, ihre antisemitische Tendenz. Die Unfähigkeit sich mit Opfern antisemitischer Morde zu solidarisieren paart sich mit dem vermehrten Ausladen jüdischer Künstler:innen von Musikveranstaltungen etc., zum Teil ohne dass die Künstler:innen sich überhaupt zum Konflikt geäußert hätten. Gleichzeitig wandern jene, deren Meinung in das eigene antisemitische Bild passt, mit dem Narrativ des „gecancelt seins“ von Talkshow zu Talkshow. Der reale Pluralismus der israelischen Gesellschaft wird dabei vollständig negiert und alle jüdischen Menschen werden einem Kollektiv zugeordnet, das mit der israelischen Politik gleichgesetzt wird.

Für diejenigen, die den Bombenhagel auf den Gazastreifen feiern, besteht die Rationalisierung darin, sämtliche Empathie für das Leid der palästinensischen Zivilbevölkerung über Bord zu werfen und jede Handlung der israelischen Regierung und Armee von vornherein zu rechtfertigen, indem etwa behauptet wird, die Hamas sei legitim gewählt worden und ihre Wähler:innen trügen nun die Konsequenzen ihrer Wahl, obwohl die meisten Bewohner:innen des Gazastreifens nicht einmal wahlberechtigt waren, als die Hamas 2007 die Macht übernahm (- auch wenn der Rekurs auf eine Wahl oder ein Wahlergebnis grundsätzlich keinen Anlass für menschenfeindlichen Zynismus geben sollte, mit dem jegliche militärische Handlungen legitimierbar erscheinen). Was auch hier strukturell zu kurz kommt, sind reale Stimmen aus Gaza selbst.

Stattdessen bietet dies für einen ohnehin repressiv gegen linke Stukturen vorgehenden deutschen Staat den perfekten Anlass, noch härter vorzugehen. Die Verknüpfung pro-palästinensisch = per se gefährlich war schnell gesetzt. Das mag an Stellen der Wahrheit entsprochen haben, sollte aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass es eine durchaus besorgniserregende politische Entwicklung darstellt, dass der Staat sich in diesem Moment eine Rechtsgrundlage schafft, auf welcher er in Zukunft noch weiter in Vereinsstrukturen, Demonstrationsrechte, etc. eingreifen kann. Was an dieser Entwicklung zusätzlich fatal ist, ist die Assoziation jüdischer Betroffener mit einem deutschen Staatsapparat, der solch ein auch eigennütziges Vorgehen schließlich unter dem Vorwand des Schutzes dieser Betroffenen legitimiert.

Teile der radikalen Rechte (sowohl in Deutschland, als auch international, z.B. antisemitische evangelikale Zionisten) können sich in diesem Klima als Freunde Israels aufspielen, ohne dabei von den bürgerlichen Parteien Gegenwind zu erfahren. Bei der instrumentellen Ausnutzung der Situation in Israel geht es der radikalen Rechten jedoch im Kern nicht um wirkliche Solidarität mit Jüdinnen und Juden, sondern darum, ihre völkisch-rassistische Ideologie zu verbreiten und die deutsche Mehrheitsbevölkerung gegen Muslime oder als solche identifizierte Menschen aufzubringen. Eindrucksvoll beweist die AfD dies unter anderem dadurch, dass sie noch 2022 eine Delegation nach Iran entsandte und herausstellte, dass Islamismus kein generelles Problem darstelle, solange er nicht in Deutschland sondern in einem Land wie Iran die Bevölkerung in Knechtschaft hält. Insofern dauerte es nicht lange, bis Rechte und die sogenannte Mitte damit anfingen, erneut Abschiebungen als Mittel der Wahl zu präsentieren (und eigene antisemitische Anteile abzuspalten). So erfährt die Mär vom importierten Antisemitismus abermals eine Renaissance. Jüdischen Betroffenen, die eine Dehumanisierung und Entsolidarisierung erfahren, erweist all das einen Bärendienst (ohne diese Entsolidarisierung gänzlich auf die Vereinnahmungsversuche von Mitte und Rechts zurück führen zu wollen). Jutta Ditfurth bringt es prägnant auf den Punkt, wenn sie sagt: „Antisemitismus lässt sich nicht abschieben, dafür ist er zu deutsch“ – Antisemiten wie der Attentäter von Halle, Jürgen Elsässer, Björn Höcke oder auch Hubert Aiwanger beweisen dies eindrücklich. Die Erkenntnis, dass sich die Deutschen ihres Antisemitismus entledigen, indem sie ihn auf Migrant:innen projizieren, sollte auf der anderen Seite nicht darüber hinweg täuschen, dass Migrant:innen, genauso wie die deutsche Gesellschaft, antisemitischen Ideologien anhängen können. Antisemitismus als solcher stellt eine Bedrohung dar. Die Analyse seiner Ausdrucksformen und die Aufdeckung seiner Wirkungsmacht sind Aufgabe einer wirklichen Linken, die die Befreiung aller Menschen anstrebt.

Aussagen der rechtskonservativen Kräfte aus CDU/CSU blamieren sich insofern, als dass die bayerische Landesregierung aktuell einen stellvertretenden Ministerpräsidenten hat, der in seiner Agitation antisemitische Chiffren transportiert; das aufgetauchte Flugblatt seiner Schulzeit bekräftigt dies, ohne dass eine Veröffentlichung notwendig gewesen wäre. Dass die Veröffentlichung Aiwangers Flugblatts ihm im Wahlkampf offenbar zum Vorteil gereichte, verdeutlicht die Rückendeckung antisemitischer Wähler:innen im Freistaat Bayern. Bei allem Gerede von deutscher Staatsräson und „Schutz jüdischen Lebens“, dürfen Fälle wie der folgende nicht vergessen werden: Noch 2014 urteilte ein deutsches Gericht, dass das Beschmieren einer Synagoge mit Hakenkreuzen kein Antisemitismus sei. Die AfD darf hier erst recht die Schnauze halten, schließlich tauchten noch im Januar Berichte zu den offen artikulierten Lagerphantasien für Jüdinnen und Juden seitens der AfD-Jugendorganisation „JA“ auf.

Die allgemeine Unfähigkeit, Antisemitismus zu erkennen und zu begreifen, liegt schließlich darin begründet, dass er ohne eine materialistische Analyse nicht zu erfassen ist. Antisemitismus ist nicht bloßer Hass auf Jüdinnen und Juden – Antisemitismus hat in seiner modernen Form einen kapitalistischen Ursprung und eine ideologische Funktion. Er bleibt solange notwendige Ideologie kapitalistischer Gesellschaften, wie Agitator:innen darauf zurückgeworfen sind, einzelne Menschen als Grund gesellschaftlichen Versagens anzuführen, anstatt das System selbst als schädlich, raffend und alles einnehmend zu begreifen. Der „Jude“ ist im Antisemitismus die ideologische Personifizierung des Bösen, des Schlechten, des Krankhaften an der Gesellschaft. In dieser Lesart gesellschaftlichen Wahns wird seine faktisch irrationale Vernichtung zur rationalen Pflicht erhoben: Der „Jude“ nimmt die Rolle desjenigen ein, den es auszumerzen gilt, um dem kapitalistischen Heilsbringer zur Durchsetzungskraft zu verhelfen; er wird zu demjenigen, der die freie Gesellschaft unter kapitalistischen Bedingungen verhindert. Dieser eliminatorische Kern und Sündenbockcharakter von Antisemitismus und seine Verankerung in kapitalistischen Strukturen findet bis heute wenig Beachtung. Während wir mittlerweile (hoffentlich) alle begriffen haben, dass es sich bei Rassismen um tief in unserer Gesellschaft und Sozialisation verankerte Denkstrukturen handelt, wir ergo rassistisch handeln können ohne uns dessen bewusst zu sein, wird diese Schlussfolgerung im Falle des Antisemitismus nur selten gezogen, geschweige denn benannt, worin er sich überhaupt artikulieren würde. Der Antisemitismusvorwurf wird intensiver und öffentlichkeitswirksamer verhandelt als der Antisemitismus selbst (looking at you, Richard David Precht).


Um diesen Text nicht unverdienterweise auf dem zuletzt genannten Namen enden zu lassen, hier noch ein paar kurze Worte zu seinem Entstehungsprozess:

Dass die Entstehungsphase eines solchen Textes sich verlängert, liegt u.a. daran, dass es, gerade bei diesem Thema, nicht trivial ist, zu einer Veröffentlichung zu gelangen, die von Einzelnen einer Gruppe getragen werden kann. Das erfordert Diskussionen, Zeit, Muße. Aus diesen Gründen jedoch eine öffentliche Auseinandersetzung mit dem Thema zu scheuen, wird weder „der Sache“ noch den darin verwickelten Betroffenengruppen gerecht. Dieser Text ist ein weiterer Versuch (https://likos.noblogs.org/2023/12/09/redebeitrag-demo-gegen-rassismus-und-antisemitismus-am-09-12-2023/), sich jener Verantwortung zu stellen. Nicht zuletzt erfüllt er auch eine gruppeninterne Funktion, und zwar die der notwendigen Auseinandersetzung und Diskussion. Dass es hierfür leider oft das konkrete Ziel einer Veröffentlichung braucht, ist dabei ein Thema für sich und beschränkt sich nicht nur auf innerlinke Diskurse.