30 Jahre nach der „Wiedervereinigung“: Deutschland ist kein Grund zum Feiern!
Am 3. Oktober 2020 jährt sich die so genannte deutsche Wiedervereinigung zum dreißigsten Mal. Warum das kein Grund zum Feiern ist, möchten wir mit diesem Text zeigen, indem wir einige politische und wirtschaftliche Entwicklungen der letzten 30 Jahre aufzeigen.
Von klein auf wird uns hierzulande beigebracht, dass wir Teil einer nationalen Gemeinschaft wären und der Staat für alle Menschen (zumindest alle Deutschen) gleichermaßen sorgt.
Dass das nicht stimmt ist anlässlich der Corona-Krise sehr gut zu beobachten. Mit Ansprachen wie „Wir sitzen alle im selben Boot “ oder „Corona trifft uns alle gleich“ soll uns vorgespielt werden, dass die Auswirkungen der Corona-Pandemie nur durch nationalen Zusammenhalt durchgestanden werden können. Dabei sind die Menschen mit einem geringen Einkommen und beschissenen Jobs dem Virus viel stärker ausgesetzt. Schlechte Arbeitsbedingungen bedeuten meist auch schlechten Infektionsschutz, wenig Einkommen bedeutet die Fahrt mit dem Bus und eine kleine Wohnung, in der es sich nicht so angenehm zu Hause bleiben lässt. Insbesondere für Frauen bedeutet der Umgang mit der Pandemie einen Rückschritt: Ihnen wurde wie selbstverständlich noch mehr als ohnehin schon die Pflege, Kinderbetreuung und der Haushalt aufgezwungen.
Auch bei politischen Entscheidungen war es offensichtlich, dass in dieser angeblichen nationalen Gemeinschaft nicht die Menschen zählen. So bekam die Lufthansa 9 Milliarden Euro an staatlichen Hilfen, während etwa Pflegekräfte, Supermarktangestellte und Paketbot*innen bis auf Applaus und Schokolade leer ausgingen. Was soll das für eine angebliche Gemeinschaft sein, die so widersprüchlich ist? In der Pflegekräfte seit Jahrzehnten mies bezahlt werden und nun auch noch zum Zwölf-Stunden-Tag verdonnert werden können. Und das, wo doch niemand bestreiten dürfte, dass eine gute Gesundheitsversorgung das Mindeste ist.
Spätestens wenn die Wirtschaftskrise und die damit verbundene Pleitewelle richtig losgeht, das Heer der Kurzarbeiter*innen weiter wächst, immer mehr Leute auf die Straße gesetzt werden und die Steuereinnahmen einbrechen, wird von der nationalen „Fürsorge“ noch weniger übrig bleiben als ohnehin schon. Dann werden statt falschem Zusammenhalt die „Sachzwänge“ noch stärker regieren: Senkung der Löhne, Senkung der Sozialleistungen, eine Zerschlagung der Lebensbedingungen, wie sie bereits den Menschen in Südeuropa nach der Finanzkrise 2008 von Deutschland aufgezwungen wurde. Das bedeutet immer mehr Obdachlosigkeit und Zwangsräumungen neben leerstehenden und immer weiter verfallenden Häusern und Luxusvillen. Das leere Gerede vom nationalen Zusammenhalt ist der eklige Kleister, der diese Widersprüche kitten soll.
Es heißt dass die Corona-Pandemie und ihre Folgen für alle gleichermaßen verheerend sei. Im Gegensatz dazu soll der 3. Oktober für alle Mitglieder der viel beschworenen nationalen Gemeinschaft ein Anlass zur Freude sein. Ist aber seit 1990 irgendetwas besser geworden?
Den Menschen in Ostdeutschland wurden nach der sogenannten Wende blühende Landschaften versprochen. Bekommen haben sie stattdessen marode Infrastruktur, Arbeitslosigkeit und Perspektivlosigkeit. Dabei geht es uns nicht darum, die DDR zu beschönigen oder gar als unsere Vorstellung vom Kommunismus darzustellen, sondern darum klarzustellen, dass das Wohlergehen der Menschen in der ehemaligen DDR keine Priorität der BRD-Führung war und ist.
In der gesamten Bundesrepublik wurde nach der angeblichen Wende der selbsterklärte Sozialstaat zunehmend abgebaut. Winzige Hartz-IV-Sätze, die bei angeblich „sozialwidrigem Verhalten“ auch noch gestrichen werden können und kein würdevolles Leben ermöglichen, sondern lediglich die Arbeitskraft erhalten sollen, einen wachsenden Niedriglohnsektor und den allgemeinen Verfall von tarifgebundenen Arbeitsverträgen haben wir nicht zuletzt der Regierung von SPD und Grünen zu verdanken. Dabei treffen diese sozialen Kahlschläge nicht bloß die Menschen, die direkt unter ihnen leiden, sie wirken sich auf alle Leute aus, die darauf angewiesen sind, ihre Arbeitskraft zu verkaufen. Sie senken die Löhne allgemein und machen die Menschen aus Angst vor dem drohenden sozialen Abstieg gefügig. Mit diesem Niedriglohnmodell hat sich die BRD in der EU auf dem Rücken der Bevölkerung in der Konkurrenz durchgesetzt. Auf Kosten der Lebensbedingungen von Arbeiter*innen hat sie eine Vormachtsstellung geschaffen, von der aus Deutschland Europa dominieren kann.
Ist das gesellschaftliche Klima für diejenigen, die der angeblichen nationalen Gemeinschaft zugerechnet werden, schon beißend kalt, sind die bundesdeutschen Zustände für alle, die aus der Gemeinschaft ausgeschlossen werden, kaum auszuhalten und lebensgefährlich.
Inzwischen vergeht kaum eine Woche ohne die Meldung, dass rechte Netzwerke und ihre gewalttätigen Pläne aufgedeckt wurden. Wer hier hilfesuchend in Richtung der Sicherheitsapparate blickt, hat entweder keine Ahnung oder will einfach nicht sehen, dass es zwischen den rechten Netzwerken und der Polizei, den Geheimdiensten und der Bundeswehr bedeutende Schnittmengen gibt.
Ziel dieser Netzwerke und ihres rassistischen und antisemitischen Terrors sind Menschen, die in Deutschland als migrantisch oder einfach als anders wahrgenommen und aus der halluzinierten „Gemeinschaft“ ausgeschlossen werden.
Diesen rechten Terror gab es schon vor dem Anschluss der DDR, brach sich aber im nationalen Taumel der 1990er so richtig Bahn. Rostock-Lichtenhagen, Mölln, Lübeck und Solingen sind nur einige der Orte, an denen in diesem Jahrzehnt Wohnorte von Ausländer*innen brannten und Rechte und „normale“ Deutsche davor feierten. Die Menschen, die bei diesen und anderen Anschlägen ermordet oder verletzt wurden, konnten nicht auf Schutz und Hilfe durch die Polizei hoffen. Solche und weitere Anschläge werden auch heute in erschreckender Häufigkeit verübt (NSU, München-Olympiazentrum, Halle, Hanau). Ähnlich erschreckend ist das Desinteresse, mit dem staatliche Einrichtungen auf die Betroffenen rechten Terrors und ihre Forderungen reagieren.
Auf diejenigen aber, die hinter diesen Anschlägen stehen, geht der Staat großzügig zu und erfüllt ihre Forderungen, etwa durch die faktische Abschaffung des Asylrechts. So ist es Menschen, die nicht aus der EU stammen, seit den 1990ern und nicht zuletzt aufgrund der Dublin-Verordnungen kaum noch möglich, legal nach Deutschland zu migrieren und hier Asylanträge zu stellen. Das gewollte Ergebnis dieser Migrationspolitik sind die Massengräber im Mittelmeer und in der Sahara oder das Internierungslager Moria.
Es gibt also nichts an diesem Staat zu feiern. Der Nationalismus verschleiert, dass wir mit unseren Ausbeuter*innen und Vermieter*innen nichts gemeinsam haben außer einem schwarz-rot-gelben Lappen. Der Nationalismus soll uns dazu bringen, soziale Kürzungen, niedrigere Löhne und Verschlechterungen unseres Lebens im Sinne der nationalen Gemeinschaft bereitwillig hinzunehmen. Und der Nationalismus führt dazu, dass den Menschen, die nicht zu dieser Gemeinschaft gezählt werden, das Leben noch viel mehr zur Hölle gemacht wird.
Anstatt uns weiterhin anhand von Herkunft und Nationalität spalten zu lassen, sollten wir als Arbeiter*innen und zukünftige Arbeiter*innen untereinander solidarisch sein.
Konkret heißt das etwa: Wenn Arbeiter*innen streiken, sollte nicht ihnen ein Vorwurf für etwaige Unannehmlichkeiten gemacht werden, sondern den Chefs, die ihnen höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen verweigern. Wenn Geflüchtete für ihre Rechte auf die Straße gehen, sollten sie nicht gegen Hartz-IV-Empfänger*innen und Obdachlose ausgespielt werden, sondern bessere Lebensbedingungen für alle, die unter den bestehenden Verhältnissen leiden, erkämpft werden. Wenn Frauen wieder verstärkt an den Haushalt gebunden werden, um die Folgen der Pandemie abzufedern, sollten wir dem solidarische Netzwerke entgegensetzen, die sich kollektiv um Kinder, Pflegebedürftige, die Wäsche und den Haushalt kümmern.
Und wenn im Rahmen der Corona-Krise versucht wird, die wirtschaftlichen Folgen auf den Rücken der Arbeiter*innen abzuwälzen, sollten wir uns in unserem eigenen Interesse dagegen zur Wehr setzen.