„Gedenken heißt kämpfen“-Demo in Bielefeld – Redebeitrag

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Am 09. November, dem Jahrestag der Reichspogromnacht, waren wir in Bielefeld auf der Demonstration „Gedenken heißt Kämpfen“ und haben dort folgenden Redebeitrag gehalten:

Liebe Antifaschist:innen,
liebe Genoss:innen,

in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 wurden in Bielefeld, wie in Osnabrück und im gesamten Deutschen Reich Synagogen niedergebrannt. Es wurden Wohnungen und Geschäfte jüdischer Menschen verwüstet und geplündert. Jüdinnen und Juden wurden gedemütigt und misshandelt, zehntausende von ihnen in Polizeigefängnisse und Konzentrationslager verschleppt, hunderte noch in dieser Nacht ermordet oder in den Suizid getrieben.

Die Pogromnacht sticht als zwischenzeitlicher Höhepunkt offen antisemitischen Terrors im nationalsozialistischen Deutschland heraus. Sie markiert den Weg zur industriellen Ermordung von Jüdinnen und Juden.
Der Opfer dieser Nacht und des nationalsozialistischen Vernichtungswahns gedenken wir heute.

Gedenken heißt aber nicht bloß zu trauern und zu erinnern, so wichtig beides auch ist. Gedenken heißt auch, wie der Titel dieser Demonstration seit Jahren lautet, zu kämpfen. Zu kämpfen dafür, dass die Erinnerung an die Opfer nicht verblasst oder in den Schmutz gezogen wird.

Deshalb haben wir uns mit euch zusammen hier in Bielefeld den Naziaufmärschen für die Holocaustleugnerin Ursula Haverbeck entgegengestellt.

Deshalb stellen wir uns Bestrebungen entgegen, die das Andenken der Verfolgten und Ermordeten einem reingewaschenen, einem falschen Bild deutscher Geschichte opfern möchten, um endlich wieder ohne schlechtes Gewissen als Deutsche durch die Welt zu stolzieren.

Deshalb stellen wir uns auch einer sogenannten Vergangenheitsbewältigung entgegen, die die Geschichte Deutschlands und des Nationalsozialismus als Steinbruch betrachtet. Als Steinbruch, aus dem nach Bedarf Versatzstücke gebrochen werden, um gerade mit Verweis auf die im Namen der deutschen Nation Verfolgten und Ermordeten eine erneute Vorrangstellung Deutschlands begründen zu können.

Gedenken heißt auch dafür zu kämpfen, dass sich die Pogromnacht, die Shoah und die unzähligen weiteren Grausamkeiten nicht wiederholen.
An die Opfer nationalsozialistischen Vernichtungswahns zu gedenken bedeutet für uns deshalb, für eine Welt zu kämpfen, in der solchem Wahn die Grundlage entzogen ist.

Für eine Welt, in der sich Menschen als Menschen begegnen können, in der sie ohne Angst verschieden sein können, und in der sie in dieser Verschiedenheit gut und schön miteinander leben können.
Diese zu erkämpfende Welt ist eine andere, als die, in der wir gerade leben müssen.

Die Welt, in der wir leben ist geprägt von Verschiedenheiten und Unterscheidungen, vor denen Menschen Angst haben müssen.

Es ist eine kapitalistisch geordnete Welt, in der sich der Wert eines menschlichen Lebens in erster Linie aus seiner Verwertbarkeit ableitet. In der Menschen überflüssig sind, wenn ihre Arbeitskraft nicht mehr profitabel ausgebeutet werden kann. In der ein geringerer Bedarf an menschlicher Arbeitskraft und eine steigende Lebenserwartung keinen Grund zur Freude und mehr Zeit zum Leben bedeutet, sondern ein politisches Problem darstellt. In der sich Menschen nicht als Menschen begegnen, sondern als Konkurrent:innen.

In dieser Welt von Vereinzelung und permanent drohender und tatsächlicher Verelendung erscheint die Nation als vermeintlich sicherer Hafen. Eine passende Abstammung vorausgesetzt, ist die Zugehörigkeit zu ihr scheinbar nicht vom Erfolg in der Konkurrenz abhängig. In Wirklichkeit aber besteht die – häufig gewaltsam durchgesetzte – Erwartung, der Nation, ihrem Staat und ihrem Standort Opfer zu bringen, bis hin zum Sterben und Morden.

Das entlässt die einzelnen Mörder nicht aus ihrer Verantwortung. Aber es macht deutlich, dass die Grundlagen der nationalsozialistischen Ideologie und Verbrechen fortbestehen.

Wir kämpfen gegen eine Welt, die Menschen vereinzelt, isoliert, verelendet und praktisch zur Menschenfeindlichkeit erzieht; gegen eine Welt, die Antisemitismus mit seinen mörderischen Folgen als Erklärung aller ihrer Unzumutbarkeiten anbietet.

Wir kämpfen für eine Welt, die sich an menschlichen Bedürfnissen orientiert. Wir kämpfen dafür, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist.

Vielen Dank.