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Corona und Fallzahlen im Krankenhaus

Wenn in diesen Zeiten deutsche Politiker [sic!] vom deutschen Gesundheitssystem sprechen, wird immer wieder gerne auf die immense Leistungsfähigkeit „unseres Gesundheitswesens“ verwiesen. Wie es im Gesundheitssystem wirklich aussieht, darüber soll hier aufgeklärt werden, auch um mit Irrtümern über das Thema aufzuräumen, die in der radikalen Linken weit verbreitet sind.

Die deutsche Linke, begonnen bei „den Sozialdemokrat*innen“, zielt bei ihrer aktuell vorgetragenen Kritik v.a. darauf ab, dass in den Krankenhäusern keine Kapazitäten bestehen würden, um die nun bevorstehende Welle von Corona-Patient*innen zu versorgen.

Dass diese These nur bedingt stimmt, liegt daran, dass in den letzten 20 Jahren unglaublich viel sich in der Versorgung und Behandlung von erkrankten Menschen geändert hat[I]. Gleichzeitig wurden aber immer mehr Patient*innen behandelt, die Fallzahl wurde erhöht. Dies ist nicht alles auf die Ökonomisierung der Krankenhäuser selbst zurückzuführen. Einiges hat auch schlicht damit zu tun, dass bspw. erforscht wurde, dass es den Menschen eben mehr Selbstständigkeit zurückbringt, wenn sie schneller wieder aufstehen und sich selbst waschen, als wenn dies wochenlang eine Frau (Pflegerin, Krankenschwester, Mutter, Frau..) für sie tut.

Das ist eigentlich nicht schlechtes, denn es hat sich gezeigt, dass die menschliche Gesundheit nicht immer ein Entweder-oder ist[II]. Früher war es manches mal so, dass pflegebedürftige Patient*innen am Ende der Behandlung weniger konnten als bei Aufnahme im Krankenhaus.

Es ist wichtig, dass eine aktivierende Pflege[III] betrieben wird, also die Menschen darin unterstützt werden, dass sie möglichst lernen, soweit wie möglich allein zurecht zu kommen, das ist emanzipatorisch.

Im Kapitalismus wird dieses Konzept natürlich in einen Arbeitstakt pervertiert und es wurden Fallpauschalen geschaffen. Das bedeutet, dass heute Behandlungsfälle im Krankenhaus nach den Diagnosis-Related-Groups (DRGs) abgerechnet werden. In diesen DRGs ist für jedes einzelne Krankheitsbild immer festgelegt, wie lange ein Mensch durchschnittlich mit einer Erkrankung im Krankenhaus bleibt. Die Betten müssen ja schnellstmöglich für den nächsten Menschen frei werden, damit der Profit stimmt.

Das ist natürlich Quatsch – jeder Mensch ist ein Individuum und sollte individuell gesund werden dürfen. Auch wenn es natürlich wissenschaftlich fundierte Richtwerte gibt, wie lange eine Behandlung ungefähr dauern mag.

Deutsche Krankenhäuser sind in den letzten 20 Jahren „effizienter“ geworden, dies ist ein Begriff neoliberaler Ökonomen, der vermitteln soll, dass mehr (medizinische) Dienstleistung etwa im gleichen Zeitraum vollbracht werden konnte.

Dieses Mehr an Dienstleistung wird ermöglicht, wenn etwa alle Menschen im Akkord arbeiten. So etwa können heute mehr Fälle im Krankenhaus behandelt werden, obwohl es weniger (absolute) Betten gibt. Es gibt immer weniger Pfleger*innen pro Patient*in in den Krankenhäusern, dazu arbeiten diese immer mehr Teilzeit. Aber es gibt mehr Ärzt*innen in deutschen Krankenhäusern (und mehr Personal in „Controlling“ etc.). Zwischen 1991 und 2017 ist das ärztliche Personal in den Kliniken um 66% gestiegen[IV].

Diese Effizienzsteigerung der deutschen Krankenhäuser ist auf vielen Ebenen fragwürdig und muss auch mehr in die Diskussion der radikale Linken Einzug finden, denn schließlich bedeutet jede Behandlung auch einen Eingriff in unsere Selbstbestimmung. Das kann hier aber nur angerissen werden. Jedoch liefern selbst bürgerliche Datenquellen bereits guten Aufschluss über das deutsche Medizinsystem, es braucht nur mehr ordentlicher Kritik, um die Mechanismen der Verwertung anzugreifen.

Ärzt*innen sind bestimmt erstmal gute Menschen und viele werden diesen Beruf ergreifen, weil sie Menschen heilen wollen. Jedoch sind auch die Entscheidungen von Mediziner*innen vorrangig durch ökonomische Maßgaben beeinflusst, so entscheiden sich etwa junge Absolvent*innen für oder gegen eine Landarzt-Stelle, weil sie dort etwa viel weniger Geld als in der Stadt verdienen[V].

Es verschleiert die Klassenunterschiede, Ärzte und Pflegerinnen auf eine Stufe zu stellen. Es ist einfach falsch, dass alle im Gesundheitswesen denselben Belastungen ausgesetzt sind. Die Ärzt*innen haben viele stände-typische Protektionen, wie Marburger-Bund, kassenärztliche Vereinigung und die Ärztekammer; die Frauenberufe im Gesundheitswesen haben das auch; nur haben die alle nichts zu sagen.

Mit der Kategorie der „Medizinische Fachangestellten“ (MFAs, früher „Arzthelferin“), die es so auch nur in Deutschland gibt, wurde lediglich eine weitere Gruppe geschaffen, die Untertaninnen der Ärzte sind. Sie werden noch mieser bezahlt als die Pflegekräfte, die in Heimen und Krankenhäusern arbeiten. Sie haben oft Teilzeit und Teildienste (heißt bspw. zwischen 7-12Uhr und 14-18Uhr arbeiten und netto 800€ verdienen) und eigentlich nie einen Tarifvertrag[VI]. Derzeit werden von linken Beobachter*innen alle, die im Gesundheitswesen arbeiten, als auf einer Stufe der Ausbeutung stehend betrachtet. Aber ob ein Arzt mit Praxis 8000€ verdient, eine Pflegekraft 1600€ oder eine MFA 800-1000€ ist ein massiver Lohnunterschied. Diesen gilt es für radikale Linke zu beachten. Es sind die MFAs, die in der Regel als allererste im Gesundheitswesen mit potenziell infizierten Menschen (aller möglichen Krankheiten!) in Kontakt kommen. Denn sie sind es, die etwa in den unzähligen Hausarztpraxen überall arbeiten. Gerade die MFAs sind eine Berufsgruppe ohne Lobby, sie haben nicht den Vorteil, sich einem großen Betrieb organisieren zu können, sie haben vielleicht zwei Kolleg*innen und eine*n Chef*in. Sie sind vereinzelt in den Praxen. Oft haben sie selbst Kinder und arbeiten in Teilzeit.

Als nächste in der Reihe sind es die Pflegekräfte, die über Stunden den engsten Kontakt mit den Patient*innen haben und somit besonderen Infektionsrisiken ausgesetzt sind. Mensch muss auch wissen, dass für bestimmte Notfallsituationen Anweisung besteht, auf Isolationsmaßnahmen zu verzichten und sofort Maßnahmen, etwa zur Beatmung einzusetzen, was alle Beschäftigten im Gesundheitswesen trotz des Ansteckungsrisikos auch tun, um Leben zu schützen.

Am untersten Ende der medizinischen Hierarchie stehen die Putzkräfte – sie müssen im Akkord arbeiten, haben i.d.R. nicht mal 10min für ein 3-Bett-Zimmer mit Bad und sind doch für die so entscheidende Hygiene zuständig – das alles für wenig Geld und oft als outgesourcte Lohnsklav*innen von Leiharbeitsfirmen.

Dennoch muss die derzeitig in linken Kreisen vorherrschende These: „Mehr Personal in die Krankenhäuser“ nochmals kritisch hinterfragt werden. Nur weil es inzwischen so viele Ärzt*innen gibt, können die (im internationalen Vergleich) vielzähligen Eingriffe und Diagnostiken gemacht werden. Da der Zwang der Wertschöpfung auch vor Krankenhäusern nicht Halt macht, kann es im Kapitalismus sinnvoll erscheinen, Menschen unnötig zu operieren, mit ihnen überflüssige Diagnostik zu machen; wohingegen vielen anderen Menschen Gesundheitsleistungen verwehrt bleiben[VII].

Niedergelassene Ärzte und Chef-Ärzt*innen[VIII] sind die Bourgeoise, die über die Produktionsmittel, wie hier Endoskope, Hybrid-OPs, Skalpelle und anderes Medizin-Gedöns verfügen können, während die Arbeiter*innenklasse (Pflegerinnen, MFAs, Putzkräfte etc.), wie zu Zeiten von Marx ganz direkt mit Krankheitserregern konfrontiert ist.

Die Forderung „mehr Personal im Krankenhaus“ kann sich somit nur in einen Reigen aus vielen gesundheitspolitischen Forderungen einreihen. Es ist nur die Frage ob die radikale Linke ihre eigenen Forderungen hat oder lieber auf Sozialdemokrat*innen vertraut.

Für eine Welt in der niemand an Infektionen leiden muss!

Für eine Welt ohne Ausbeutung und Lohnarbeit. Für die befreite Gesellschaft.

[I] Krankenhausreport 2019 (open Ressource) https://link.springer.com/book/10.1007/978-3-662-58225-1
[II] https://gegen-kapital-und-nation.org/bessere-gesundheit-durch-selbstbetrug-salutogenese/
[III]Aktivierende Pflege bedeutet, dass viel Zeit in das Anleiten, Vorführen, „Danebenstehen“, Hilfestellung leisten durch Pflegekräfte investiert wird- kann so in Deutschland in der Regel nicht durchgeführt werden. Es ist einfach schneller eine Schutzhose („Windel“) anzulegen, als lange Toilettengänge zu ermöglichen. Eine Erkrankung kann sich auch völlig unterschiedlich darstellen, die eine Person ist damit bettlägerig, die andere immer noch gehfähig. Es ist Aufgabe der Fachkräfte im Gesundheitswesen diese Potenziale zu erkennen und entsprechende Therapien zu ermöglichen. Auch solche Erkenntnisse beeinflussten Antonovsky.
[IV] https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/81707/Mehr-Aerzte-weniger-Pflegekraefte
[V] Rosog, T. (2014): Pfadabhängigkeiten vertragsärztlicher Leistungserbringung
Eine Herausforderung für den gestaltenden Sozialstaat. Springer Fachmedien: Wiesbaden.
[VI] Kathmann, T., Dingeldey, I. (2015): Prekarisierung berufsfachlich qualifizierter Beschäftigung? Lohnstrukturen, Beschäftigungsformen und Handlungsstrategien von medizinischen Fachangestellten. Reihe Arbeit und Wirtschaft in Bremen.
[VII] Es wird schon länger in der „Fachöffentlichkeit“ diskutiert, ob es nötig ist, dass etwa hochaltrige Menschen bestimmte Operationen erhalten müssen, da dies oft zu keiner Verbesserung der Lebensqualität führt. Wenn wir uns nun also vorstellen, dass diese eventuell unnötigen jedoch derzeit nicht sofort notwendigen Operationen verschoben werden, wird ein großer Teil der Ressourcen (also Betten, Diagnostik- und Behandlungsplätze) frei. Es geht nicht darum, Menschen von gesundheitlichen Interventionen fernzuhalten, die sie brauchen. Jedoch besteht da ein schon lange in den Gesundheitswissenschaften diskutiertes Problem, dass Menschen; die eigentlich eher weniger Gesundheitsintervention brauchen würden, weil sie eben über eine gute Gesundheit verfügen, eher oft Zugang zu diesen erhalten (auch: inequality paradox). Soziale Ungleichheit und gesundheitliche Ungleichheit sind dabei nicht direkt miteinander verbunden, sondern über Determinanten, wie Wohnraum, Region, Krankenversicherung, Bildung (materielle & strukturelle Faktoren) vermittelt und werden durch nachgängige Faktoren wie etwa risikohaftes Verhalten (-schlechtes Essen, weil keine Kohle -nicht zum Arzt gehen, obwohl man Sex ohne Kondom hatte, weil die Gesellschaft scheiße zu queeren Menschen ist) verstärkt. In einer ordentlichen Gesellschaft würde es solche idiotischen Überlegungen womöglich gar nicht mehr geben. Aber in Zeiten der gesellschaftlichen Übergänge, müsste v.a. überlegt werden, wie Menschen überall auf der Welt schnell ähnliche Bedingungen bekommen.
[VIII]Niedergelassene Ärzt*innen, besonders wenn sie in einem lohnenden Fachbereich (jene mit vielen Apparaten z.B. die Radiologie) arbeiten und Praxen in reichen Stadtteilen haben, sind nicht abhängig beschäftigt und können sowohl ihren Vertragsarztsitz, als auch die Immobilie sehr lohnend verkaufen, wenn sie etwa aus dem Beruf ausscheiden wollen. Chefärzt*innen sind aufgrund ihrer meist eigenen chefärztlichen Ambulanzen und Sonderverträgen auch für die stationären Patient*innen ebenfalls nicht abhängig beschäftigt und stellen somit selbst einen Unterschied zu Oberärzt*innen dar. Durch ihren Einfluss den sie etwa in Leitungsgremien der Krankenhäuser (diese haben zwar eine betriebswirtschaftliche Geschäftsleitung, jedoch muss jedes Krankenhaus nach SGB V ärztlicher Leitung unterstehen) haben die Chefärzt*innen auch massiven Einfluss auf die Ausgestaltung von Arbeitsbedingungen in der Pflege und für alle anderen Berufsgruppen im Krankenhaus.